Zertifizierte Wallfahrt zu Madonna del Ghisallo (oder: „Und was hast du nach dem Frühstück gemacht?“)

Ein Brevet von München zum Wallfahrtsort Madonna del Ghisallo und dann zurück über die wohlklingenden Alpengiganten Sankt Gotthard und Klausenpass war zu verlockend. Da das Paris-Brest-Paris aus privaten Gründen dieses Jahr nicht in Frage kam, war Teilnahme hier einfacher zu realisieren, obwohl es über die gleiche Distanz ging. Das Zeitfenster kollidiert nicht mit Schulferien und die Logistik ist einfach zu stemmen.

Als dann das Event näherkam, lief es aus privaten Gründen nicht ganz rund. Der geplante PBP-Ersatz, der eh schon um Sailo reduziert war, wird für mich auch maximal 2 Tage lang sein. Nach einem kurzen Moment der Resignation, ermuntert mich Thomas, trotzdem den ersten Teil mitzufahren. Logistisch kommt man am 2. Tag von Mailand oder mit etwas abgeänderter Strecke von Lindau aus noch am 2. Tag wieder mit Öffis zurück nach München.

Aber dann – Es gibt Dinge, die kannste dir nicht ausdenken – die Situation wird bei Thomas nochmal brenzlig:

– „In der Gemüseabteilung hat mich was gestochen. Da ich die Situation nicht mit “stechen” in Verbindung gebracht habe, habe ich gar nicht groß geschaut, was da am Knie piekst, sondern hab nur mehrfach hin gewischt. Dachte, da ist ein Spreißel in der Hose. Erst ein paar Minuten später habe ich die Hose hochgeschoben und das Knie angeschaut, weil es einfach nicht aufgehört hat zu Brennen

– da war doch tatsächlich ein deutlicher roter Punkt. Eine Stunde später das ganze Knie dick und gestern Abend bin ich kaum die Treppen runtergekommen. Heute ist mein halbes Bein ist angeschwollen und heiß. Aber Radfahren geht besser als Laufen. Hinknien ist nicht möglich – so müsste die Madonnenanbetung im Stehen oder im Sattel stattfinden“

– „Das Schicksal möchte nicht, dass ich das mache. Heute Vormittag wollte L. (Sohn) noch eine 80er Runde mit dem Rad fahren. Er ruft mich an vom entferntesten Punkt, dass der Steuersatz total locker geworden ist. Der ist wirklich total im Arsch und ich hätte ihn schon gewechselt, wenn ich die Lagerschale runterbekommen würde. Konnte aber die letzten Wochen nicht auf mein Rad verzichten um es ne Woche zum Händler zu stellen. Jetzt isser wohl noch mehr hin – hab alles notdürftig zusammengeschustert und fahre nochmal ne Runde, um zu schauen, wie das jetzt hält… Sind ja nur ein paar Pässe…“

– „Der Teufel unternimmt einen letzten Versuch – der geplante Zug kommt ohne Wagen zur Fahrradbeförderung und somit keine Fahrradmitnahme im ICE. Bitte den nächsten nehmen. Nach kurzer Aufregung festgestellt, daß sich das noch auf die Minute ausgeht. Keep fingers crossed – einmal braucht man jetzt einen Zug, der funktioniert und pünktlich ist – kein back-up vom back-up mehr.„

Letztendlich kurz nach 9:30 werden die Brevetkärtchen abgeholt. Es grenzt an ein Wunder.
Also Samstag, Start in München, 10 Uhr vormittags (Hallo Benedikte!). Der bisher heißeste Tag des Jahres. Ein bunter Mix aus erfahrenen Langstreckenspezialisten, manch Flachländern, drei Frauen, weniger Erfahrenen und drei Österreichern.

Meine Marschroute ist klar: Ich fahre bis nördlich vom Comersee mit, um dann über den Splügenpass, das Rheintal zum Bodensee zu gelangen und in Lindau in den Zug zu steigen. Ich muss Sonntagnachts (leider) wieder zu Hause sein.

Bis zum Kochelsee wabert das eh nicht große Starterfeld als Knäuel dahin. Hoch zum Walchensee zeigt Thomas seine Kletterqualitäten, spätestens hier am ersten Hügel sprengt es das Teilnehmerfeld. Über Mittenwald dann weiter über Leutasch ins Inntal. Die Hitze steht im Inntal, wir halten unsere Trinkflaschen und Köpfe in jeden sich bietenden Brunnen.

Angeblich bis zu 39°C im Inntal – also immer schön Fahrtwind generieren.

Einen Mitfahrer im Punktetrikot überholen wir mehrmals, er ist aber anschließend dann immer wieder vor uns. Kennt wohl geheime shortcuts. Endlich in Landeck. Wir stärken uns in einer türkischen Pizzeria mit Nudel und mehreren alkoholfreien Weizen, die Sonne ist am Untergehen. Eine lange schiefe Ebene geht es das Engadin im Dunklen hinauf, oben in St. Moritz wird es tatsächlich etwas regnerisch, wobei wir Glück haben, das Wenige ist schon vor uns aus dem Himmel gefallen. Runter den Maloja Pass ins Bergell, sehr schade, dass man nichts sieht. In Chiavenna um halb vier halten wir kurz inne und verabschieden uns voneinander.

Ich gondle drei Stunden den Splügen hoch, es wird hell, leider wenig Sicht und frisch. Die letzten 150 km mit reichlich Gegenwind nach Norden zum Bodensee. Ab Lindau dann im Zug, ich bin eine olfaktorische Zumutung für alle Mitreisenden.

Thomas: Also von hier ab allein weiter – naja sind ja „nur noch 800km“. Es geht weiter südlich zum Westufer des Lago di Como.

Dort dann hinunter bis zum Fähranleger nach Bellagio, unterhalb des Ziels, der Kapelle Madonna del Ghisallo. Rechtzeitig zur ersten Fähre bin ich da und werde schon von ca. 12 Mitfahrern empfangen, welche auch schon bereit für die Überfahrt sind. Danach geht es zusammen den nicht ganz so kurzen Anstieg zur Kapelle, die um die Zeit noch ruhig im Morgenlicht erstrahlt. Allerdings noch verschlossen. Ich bin jetzt doch schon etwas müde und entschließe ein kurzes Nickerchen zu machen. Als ich nach einer Stunde wieder aufwache ist nur noch ein Mitstreiter vor Ort, aber zusätzlich unzählige weitere Rennradpilger und Touristen.

Es wird fast etwas stressig. Nach einem kurzen Touriprogramm geht es dann weiter an Mailand vorbei Richtung Lago di Maggiore. Der Tag ist geprägt von gleißender Hitze, jeder Menge Verkehr und der Hoffnung auf Brunnen an jeder Ecke, die aber heute nicht erfüllt wird. Gegen Abend geht es hinauf zum Passo Scopello oder auch Val Cannobina oder Passo Marco Pantani genannt – wie auch immer. Jedenfalls eine längere Kletterei auf 1000m hinauf mit dem Ziel des Marco Pantani Denkmals.

Also noch eine Heiligenanbetung auf dieser Tour. Ich hätte aber ehr eine überlebensgroße Statue erwartet – was ja auch nichts heist in diesem Falle. Nach einer obligatorischen Spende an den Verein für die Opfer von Antidopingmaßnahmen (*Zwinker, zwinker*) geht es hinab, wieder zurück zum Lago di Maggiore.

Kurz vor der Grenze zur Schweiz werden die Kalorienreserven noch durch eine traumhafte Riesencalzone bis zum Rand aufgefüllt. Plötzlich macht alles wieder Sinn und es wird der Beschluss gefasst es nicht zu übertreiben. 2 Tage Hitzeschlacht hinterlassen tiefe Spuren. Nach Locarno einen Schlafplatz suchen und dann schaun, wie der nächste Tag läuft. Ich mache mich darauf gefasst, dass mein Zeitfenster bis Dienstagabend evtl. nicht langt und ich von Lindau mit dem Zug zurückfahre. Zeit scheint einfach zu versickern. Hochrechnungen mit potenziellen Fahrzeiten gehen jedenfalls nicht auf. Letzteres ging aber nicht nur mir so. Ich glaube keiner kam an diesem Tag so voran, wie gedacht. Letztendlich schlage ich mein Nachtquartier bei angenehmen 20 Grad um 23 Uhr unter einer Autobrücke hinter Bellinzona auf – umgeben von großen Heuballen. Glück gehabt, denn unter freiem Himmel wäre ich schön eingeregnet worden. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Also nach 655 km erstmal ein paar Stunden Schlaf.

Um 6 Uhr ging es dann weiter, stetig bergauf bis zur Passhöhe des Sankt Gotthard. Die alte Tremola Straße, also der eigentliche Pass, ist gepflastert – 12 km, ca. 1000 Hm – was das nach über 700 km im Sattel heist kann man sich vorstellen. Aber ich will nicht klagen – in angenehmer Pace ging es ordentlich bergauf. In der Höhe war die Temperatur auch erträglich und das Panorama sagenhaft.

Nach dem Gotthard, bot der Klausenpass am Nachmittag nochmal 1600 Qualitätshöhenmeter, diesmal aber in feinem Asphalt. Spektakulär ging es neben der Straße dermaßen senkrecht bergab, so dass ich manchmal lieber einen Meter Abstand gehalten habe.

So jetzt merkt man langsam, dass es eine wirklich lange Fahrt war. So viel habe ich jetzt schon getippt und immer noch gäbe es so viele Details. Aber ich will nicht langweilen. Vom Klausen zur Schwägalp gab es einige schöne verkehrslose Sträßchen mit unvernünftigen Steigungen zu bezwingen. Am Schluss ein wunderschöner Militärweg mit jeder Menge Viehzeug, den ich trotz einbrechender Dunkelheit sehr genießen konnte. Wer jetzt dachte, dass man alle Anstiege gemeistert hatte, wurde nochmal enttäuscht, denn bis man am Bodensee war, ging es doch noch dreimal ordentlich bergauf.

Lindau, Tag 4, 2:20 Uhr, 970 km – bald geschafft – nur noch 250 km durch die Voralpenlandschaft. Die Zweifel am Ankommen, welche mich noch am Lago Maggiore beschäftigt haben, sind verflogen. Übrigens habe ich den gesamten Tag nur einmal einen weiteren Mitfahrer getroffen. Ich war daher sehr überrascht, dass angeblich im Mc Donalds gegenüber der Kontrolltanke einige Mitstreiter einen Stundenschlaf abhalten. Noch fühlte ich mich aber fit und beschloss wieder allein auf die Strecke zu gehen.

Und es ging eigentlich ganz gut dahin. Einmal musst ich noch mal 1h Schlaf tanken. Es gab Stadtfeste zu bewundern oder auf 300m einen kolossalen Sturmschaden mit massenweise umgeknickten großen Bäumen. Es kam wieder die große Hitze und auf der letzten Etappe nach München hat es sogar nochmal geregnet und es wurde fast unerträglich schwül. Aber das Ziel so nah vor Augen kann man viel ausblenden. Niemand hat erwartet, dass es einfach wird. Die Beine funktionieren, wenn auch mit mittlerweile moderater Geschwindigkeit. Dennoch kommt man stetig voran, alles gut.

Erst die letzten 100 km habe ich Probleme mit dem Sitzen bekommen. Dann geht man in Vermeidungshaltungen, wird verklemmt und dann kommt eines zum anderen und es wird nochmal unerwartet schlimm. Dazu kam an den Seen vor München die Streckenführung. So viele kleine Anstiege, schlechte Straßen und kein Flow. Ich war wirklich am Verzweifeln, wie schlecht man vorankommt. Und jedes Mal, wenn man aus dem Sattel musste, war es wieder schwierig sich zu setzen. Erst als man wieder mal mehr als einen km geradeausfahren konnte ging es wieder. Letztendlich war ich so happy, nach 80 h wieder zurück zu sein. Ich hatte es geschafft. Als Belohnung habe ich mir ein August (Münchner Bier) gegönnt – an der Tanke auf dem Bordstein sitzend – neben meinem Rad und der automobilen Kundschaft. Es war das beste Bier seit langer Zeit.

Das nächste Mal dann die ganze Distanz zusammen (Sailo?). Bin schon gespannt, was nächstes Jahr als Highlight ansteht, die Latte liegt hoch.

Thomas: 1.225 km // 14.487 hm // 80h 24min
Hannes: 551 km // 6.005 hm // 27h 52 min

text: hannes klessinger & thomas steffl; fotos: thomas steffl

2 Gedanken zu „Zertifizierte Wallfahrt zu Madonna del Ghisallo (oder: „Und was hast du nach dem Frühstück gemacht?“)&8220;

  1. Tolle Ausfahrt!
    Auch wenn klar ist, dass auf einer solchen Tour Hürden auftreten werden, ist das wiederholte Schlucken, Anpassen oder Improvisieren dennoch stets eine Herausforderung. Chapeau!

    Der Ausdruck “Qualitätshöhenmeter” gefällt mir gut. 🙂

  2. Sehr schön geschrieben bzw. beschrieben. Es zeigt dass die Münchner Brevets einen sehr viele Hochs und Tiefs durchleiden lassen.
    Leider konnte ich selbst auch aus diversen Gründen nicht daran teilnehmen. Vielleicht ja nächstes Jahr.

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