Neuseen Classics 2023

Leipzig ruft – wir wollen am Wochenende Freunde besuchen, und warum nicht das Nützliche mit dem Angenehmen oder umgekehrt 🙂 verbinden, wenn es sich anbietet. Die Neuseen Classics finden am Sonntag in und im Leipziger Umland statt. Leipzig wird für mich wahrscheinlich immer ein Phänomen bleiben – es gibt (meiner Ansicht nach) keine richtigen Orientierungspunkte und ich habe immer das Gefühl noch nicht „in der Stadt“ zu sein. Simon begleitet mich daher lieber 🙂 am Samstag zur Startnummernausgabe am ehemaligen Messegelände.

Startbeutelausgabe: Gegenwind formt den Charakter 😉

Dem morgendlichen Weckruf folgend mache ich mich am Sonntag morgen bereit für die NSC100. Den Katzensprung von meiner Unterkunft zum Startpunkt sollte ich mühelos bewältigen – von wegen – ich schaffe es natürlich mich auch hier schön zu verfahren und nehme etwas wiederwillig die ersten schneeweißen Schotterwege des Tages unter meine Räder. Dank den unkaputtbaren Vittorias, die mir Philip überlassen hat versuche ich mir über einen möglichen Platten keine Gedanken zu machen. Im Zielbereich angekommen warte ich noch den Start der 60km-Runde ab, ehe ich mich nun auch in den Startblock einreihe. Das Wetter ist perfekt und die Stimmung gut. Ich genieße den Moment und lasse meinen Blick über Fahrer:innen und Material um mich herum schweifen. Das sieht man Sachen, die man live noch nicht gesehen hat oder aber auch nicht sehen will 😉 Mein größter Albtraum steht direkt neben mir: eine offensichtlich frisch geölte Kette, und das nicht zu knapp. Nein sogar so viel, dass im wärmenden Licht der Morgensonne das Öl tröpfelnd den Asphalt beregnet. Leute, bitte – wer nicht täglich einen 600er Brevet absolviert, greife bitte zu Kettenwachs!

Einmal rund um die Braunkohle

Der Countdown zum Start beginnt und der Pulk setzt sich in Bewegung. Anders als bei anderen Veranstaltungen bleibt das Hauptfeld erstaunlich lang zusammen. Zügig verlassen wir die Leipziger Innenstadt und machen uns auf ins durch den Braunkohleabbau geprägte hügelige Umland. Vorbei am Störmtaler See hat die Streckenorga einen schönen feinen Schotter-Sektor eingebaut, der fast ein wenig Toskana-Feeling aufkommen läßt. Es läuft gut und das Feld bleibt geschlossen, bis Thierbach. Nach etwa 30 Kilometern setzt sich eine kleine Gruppe von etwa 5 Fahrer:innen ab. Sie nutzen den kurz darauf folgenden leichten Rückenwind und machen sich davon. Das Peloton behält sie nicht lange im Blick, und läßt die Lücke immer weiter aufbrechen. Ich werde langsam weiter nach vorne gespült und als wir ca. 10km später kurz nach Flößberg an eine langezogene Welle kommen und die beiden vor mir noch verbleibenden Fahrer sichtlich mit dem Gegenwind zu kämpfen haben, packt mich der Wahnsinn und ich trete an. Ich drücke den Hügel weg und nehme den Schwung beflügelt mit. Bei Trebishain macht die Strecke einen 90° Schwenk und ich stelle zu meinem Erstaunen fest, dass ich das Peloton ein ordentliches Stück hinter mir gelassen habe. Wer so antritt muss jetzt aber auch liefern, denke ich mir und nehme beherzt meine Beine in die Hand. Der Wind bläßt mir einsam entgegen und in Anbetracht der Tatsache, dass wir erst etwa die Hälfte der Strecke gefahren sind, kommen genauso schnell auch Zweifel über meinen taktisch unklugen Alleingang in mir auf. Noch im innerlichen Diskurs kopfschüttelnd, bemerke ich drei Mitstreiter, die meinen Vorstoß zum Anlass genommen haben, doch noch den Sprung zu den Ausreißern zu wagen und meine kleine Flucht nimmt wieder Fahrt auf. Kurz nach Bad Lausick taucht die fünfköpfige Gruppe wieder vor uns auf. Drei Dörfer weiter schaffen wir den Zusammenschluss.

Meine drei Mitstreiter aufschließen lassen…

Dann passiert es: Bei Kilometer 53, ich weis nicht wie, vielleicht hat jemand zur Flasche oder Riegel gegriffen und nicht aufgepasst. Plötzlich knallt es vor mir, ein Rad steht quer, der nächste macht samt Fahrer einen Salto darüber, bremsende Reifen, krachendes Carbon. Ich finde eine Lücke und komme durch – als hätte ich eben den Flug einer Fledermaus nachempfunden – um und hinter mir ein schmerzendes Klangspiel von Mensch und Material. Als ich zum stehen komme verschwinden die vier Vorderen schon über die nächste Welle, hinter mir liegen vier am Boden. Glücklicherweise war mit uns ein Begleitmotorad unterwegs und innerhalb des Unfallbereichs stehen zwei Streckenposten, die schnell zur Stelle sind, und sich umgehend um die Gestürzten kümmern – kein schöner Anblick, viel von Lycra oder Haut ist nicht übrig geblieben, Material für tausende Euro ineinander verkeilt. Ich helfe schnell die Strasse freizuräumen, ehe zwei Minuten später sich das Peloton wie ein bunter Drache zum chinesischen Neujahrsfest über die Hügel hinter uns schlängelt, und auf uns zurollt. Alle nehmen bedacht das Tempo raus und fahren vorsichtig an der Unfallstelle vorbei. Ich vergewissere mich, dass ich nicht weiter gebraucht werde und klinke mich am Ende des Drachens wieder ein. Der Schreck sitzt tief, ja es macht Spaß schnell auf abgesperrten Strassen zu fahren, aber am Ende ist es nunmal nicht unser Job.
Der Ritt geht weiter und ich versuche meinen Blick wieder auf die wirklich schöne Strecke zu lenken. Irgendwo soll es ja auch noch eine erwähnenswerte Steigung geben, die man hierzulande als Berg bezeichnet 🙂 Bei Störmthal ist es soweit. Gute 13% mit 2-3 kleinen Serpentinen – wirklich schön. Die enge Gasse aus dicht gedrängten Besucher links und rechts läßt ein wenig Tour-Feeling aufkommen. Leider ist der schmale Weg dem sich stauenden Peloton fast nicht gewachsen, so dass meine Versuche den kurzen Anstieg schön hochzuknallen immer wieder ausgebremst werden. „Oben“ angekommen versuchen diejenigen, die vermeintlich kostbare Sekunden aufgrund der schlagartig eingetretenen physikalischen Gesetze an der Steigung liegen gelassen haben, wieder Vollgas Boden gut zu machen. Ich hatte meinen Spaß, gehe kein Risiko mehr ein und lasse wer es eilig hat an mir vorbeiziehen. In der Ferne ist dann auch schon bald das Völkerschlacht-Denkmal zu sehen und als wir am JVA-Komplex vorbei fahren, sind wir praktisch schon auf der Zielgeraden. Ich lasse rollen… Mit +18:52,73 auf den Sieger und ehemaligen Sprinter vom Team Gerolsteiner, Robert Förster, und einem 39,42er Mittel (laut Transponder) komme ich als 186er durchs Ziel, und husche direkt weiter zu meiner Familie, die mich am Auto erwartet. Einpacken und entspannt zurück nach Hause.

Auf der Zielgeraden durch das Doppel-M der alten Messe-Leipzig

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