Juli 2015 – ich fahre im Team Carbonara beim 24h-Rennen in Kelheim acht Runden. So circa 150 Kilometer auf 24 Stunden verteilt. Eine neue Herausforderung nach jahrelanger RTF-Fahrerei. In besagtem Sommer pflanzt mir ein Nachbar bei einem Straßenfest das Wort „Brevet“ in meinen Kopf.
Rechtsschreibung wird überbewertet. Ein Plan für drei Tage in bester Karl-Weimann-Tradition.
Juni 2018 – mein dreizehntes Brevet steht an. Ich will 1000 Kilometer am Stück radeln. Die große Acht durch Bayern, erstmal um München, anschließend einen Kreis um Nürnberg.
Donnerstag. Ich wache durch das Geräusch von Regentropfen auf. Das Wetter ist leider genauso, wie es vorhergesagt wurde. Ich will liegenbleiben. Fahre mit dem Zug nach Treuchtlingen. Wie üblich. Spätestens in Ingolstadt wird aus meiner unwirklichen Situation wieder Realität. Entweder sitzt schon ein Gleichgesinnter im Zug oder, wie heute, steigt der Holger aus Ingolstadt zu. Unschwer zu erkennen: Rapha-Klamotten, Bombtrack-Rad mit entsprechender Zusatzausrüstung. Holger ist einer dieser jungen Wilden, die ich nur am Start kurz sehen werde.
Bis zur Donau ist es noch trocken. Anschließend setzt wieder Regen ein, der, je weiter wir uns nach Süden begeben, stärker wird. Ich habe ab Landsberg alles an, was ich dabei habe. Das ist nicht allzu viel. Aber verglichen mit einem Mitfahrer, der nach wie vor kurz-kurz fährt, ist das eine Menge. Sobald ich mich nicht bewege, friere ich. Ab Weilheim kommt zu allem Überfluss auch noch der nervige Feierabendautoverkehr dazu. Viel zuviele SUVs mit lebensmüden Überholvorgängen. Ich entscheide mich, von meiner Zimmerreservierung in Bad Tölz Gebrauch zu machen. Die anderen fahren zur Pizzeria, in der während des Essens der Wirt die ganzen Radlklamotten in den Trockner schmeißt. Nudistenmahlzeit.
Bibelsprüche mit dem Rad gefahren: Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan (Matthäus 7,8)
Ich versuche mich zu orientieren. Seltsamerweise ist das Roadbook im Packsack total durchnässt. Ich kann die Adresse meiner Herberge nicht mehr entziffern. Fahre dreimal im Kreis, muss mich durchfragen. Es bedarf mehrerer Anläufe an fremden Haustüren, bis ich endlich die richtige gefunden habe. Warte noch vergeblich auf das warme Wasser für die Dusche, bezahle und lasse mir eine Halbe Bier geben. Lege mich ins Bett und schlottere circa zwei Stunden vor mich hin, bevor ich für ein paar Stunden Schlaf finde.
Drei Uhr morgens. Trocken. Ein kurzes Frühstück, verschütte zittrig meinen Kaffee. Rein in die immer noch feuchten Klamotten. Über Schliersee und Hundham runter ins Inntal. Da ist er wieder, der Dauerregen. Natürlich den Samerberg hoch zum Duftbräu, wo ja eine „Geheimkontrolle“ stattfinden soll. Ich kann nichts Geheimes finden. Wie ich später erfahre, war da der Johann mit Frau im Wohnmobil (offensichtlich gut versteckt). Geistesabwesend vergesse ich zumindest ein Photo zu machen, was meine Durchfahrt dokumentieren würde. Abgesehen davon hätte es auch – außer die Socken zum wiederholten Male trocken zu wringen – keinen Grund zum Verweilen gegeben. Hurtig weiter, das Zeitlimit in Prien sitzt mir im Nacken. Oberbayern und seine Berge, wie ich es liebe.
Kurz vor Obing. Immer noch Regen. Das ganze Rad knirscht und scheppert. Ich bin für mehrere Kilometer auf einem steinigen Gravelsektor. Ist das jetzt eine dieser sagenumwobenen Halluzinationen? Was will mir Karl damit sagen? Ich denke nur, wie übel das wäre, hier und jetzt einen Defekt zu haben. Ich hätte wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen. So bleibt es aber nur bei weinerlichem lautem Verfluchen des nasskalten Dreckswetters. Weiter durch das in Grau gehüllte ländliche Oberbayern.
Bis Waldkraiburg fahre ich zum ersten Kollegen auf. Frage ihn an der roten Ampel, wo er denn seine Nacht verbracht hätte. Er meint, es wäre rot. Ich wundere mich über die komische Antwort und fahre los. An der nächsten Tanke die x-te Cola. Öle meine Kette, kann das Geschepper nicht mehr ertragen. Abends erzählt mir der Berliner Randonneur, dass er für diese Wartungsarbeit einen Liter Motoröl gekauft habe. Wörth an der Isar. Das Wetter wird freundlich. Es gibt ein richtiges warmes Essen. Bin mittlerweile nicht mehr der am Ende, sondern mittendrin. Es sind zwar noch 200 Kilometer für heute – im Ganzen noch nicht die Hälfte – aber ich bin guter Dinge. Es bleibt noch viel Zeit bis Sonntag um 1 Uhr mittag.
Weiter über die Wellen Richtung Kelheim. Ich bekomme stechende Schmerzen an der rechten Ferse. Kenne ich so nicht. An was anderes denken. Ruhig weiterfahren. Der Schmerz lässt nicht nach. Hab ja genügend Zeit zum Überlegen. Entschließe mich, weiter zu fahren. In Kelheim Kontrolle bei der Tamponfabrik „Fibres“. Exakt in dem Moment, an dem ich dort bin, drückt Markus, der mir bekannte Betriebsleiter, die Fußgängerampel und hält den ganzen Verkehr auf. Er unterbricht seinen Nachhauseweg und lässt es sich nicht nehmen, beim Pförtner den Brevetpass zu stempeln und geschäftig mit „Dr. J.“ zu unterschreiben. Beim Gedanken an den folgenden Streckenverlauf (Ihrlerstein! etc.) gibt es für mich nur noch einen Weg: bis Kinding durch das Altmühltal. Ich kann die ganzen Anstiege meinem maladen Körper nicht weiter zumuten, will aber den Tag mit den 600 km zu Ende bringen. Rolle locker bei 35 Grad Hitze durch das Altmühltal. Von dort über das schöne Anlautertal hoch auf die Fläche und nehme bei meinem gemächlichen Tempo im Sonnenuntergang die zuletzt schon oft befahrene Strecke mit ganz anderen Augen wahr.
Farblich passend: Schuhe, nasse Socken, welke Füße und ein Bier
In Treuchtlingen treffe ich Max und die anderen beim Aufbruch zur 400er Runde. Man sagt, der Jörg wäre als Erster schon mittags da gewesen. Ich werde freundlich begrüßt und wohlumsorgt. Essen, Trinken, Duschen, Runterkommen, Reden. Bei mehreren guten Gutmanns bekommt man so einiges an Randonneursgarn zu hören. Gehe zuguterletzt mit dem rauchenden Schwaben noch eine quarzen. Der Gang auf die Toilette ist sinnlos. Ich lege mich auf meine Matte und schlafe sofort. Werde am nächsten Tag durch den letzten Schwung an Startern für die 400er Runde um 4 Uhr wach. Da torkelt ja so mancher rum. Mehrmals bekomme ich einen Tritt ab. Guten Morgen. Johann steht mit gütiger Ruhe bereits wieder am Tresen und wacht über den Laden. Ein Spezi und zwei Stück Kuchen. Ich packe meine Sachen und radle zum Bahnhof. In Nürnberg bitte ich die Schaffnerin, mich vor Regensburg zu wecken.
Zwei intensive, wunderschöne Tage.
Text und Bild: Hannes Klessinger
hut ab, wenn die saat mal keimt kann ich verstehen, dass man sich derartige tortouren antut. btw, hab in einem anderen blog gelesen, dass der holger das ding tapfer bis zum ende durchgezogen hat 😉
Tja, der Holger hat das Brevet nicht homologisiert bekommen, too young and too wild (?), der kann ja noch viel üben.