Mit dem Three Peaks Bike Race und dem Austrian Extreme Bike Race hatte ich in der Saison 2021 bereits zwei große Events in den Beinen. Im September war aber noch Luft für den dritten Streich. Für die dritte Auflage des Race Through Poland, kurz RTPL, war ich bereits seit dem Vorjahr angemeldet. Es sollte ursprünglich im Mai stattfinden, wurde jedoch auf den 25. September verschoben und bildet somit meinen Saisonabschluss, was Bikepacking Rennen angeht. Eine besondere Herausforderung beim RTPL ergibt sich dadurch, dass die Benutzung von Hauptverkehrsstraßen (drogi krajowe) nicht gestattet ist. Diese dürfen für max. 1 km befahren werden, was entsprechend bei der Routenplanung im Vorfeld berücksichtigt werden musste.
Race Briefing: Höchste Konzentration und Aufmerksamkeit vor dem Start
Foto von Adrian Crapciu, http://adriancrapciu.com/
Gestartet wurde im Velodrom von Breslau und zwar im geschlossenen Verband samt Polizeieskorte auf den ersten Kilometern. Die neutralisierte Phase war beendet, sobald die Polizei an der Stadtgrenze umkehrte. Und es ging auf der folgenden Gravelsektion unmittelbar zu Sache. Wenig später kam auch schon ein erster ruppiger Kopfsteinpflasterabschnitt. Somit war von Beginn an klar, was die Teilnehmer an den kommenden Tagen zu erwarten haben. Die ersten 68 km waren auf einem vorgegebenen Start-Parcours zu absolvieren, der oben auf dem Tąpadła-Pass endete. Dennoch war der Beginn weitestgehend flach und extrem schnell. Eigentlich viel zu schnell. Trotzdem habe auch ich mitgemacht und bin als einer der Ersten oben angekommen. Ich denke auf Position vier. Ab dort war free-routing angesagt, sodass jeder seiner eigenen Route in Richtung des nächsten Parcours folgte. Dieser startete etwa bei Kilometer 438 ab Start. Auf diesem Abschnitt lagen keine größeren topographischen Schwierigkeiten auf dem Weg. Ich würde sogar sagen, die Strecke war komplett flach, jedenfalls definitiv zu flach für mich. Mit minimaler Standzeit versuchte ich das Tempo hoch zu halten, um nicht zu viel auf die Schnellsten zu verlieren. Wie ich in der Nachbetrachtung gesehen hatte, legte insbesondere Roman Cap Nr. 33 ein unglaubliches Tempo vor. Den Parcours 1 erreichte er etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt lagen nur noch sechs weitere Fahrer in erweiterter Schlagdistanz bzw. innerhalb von ca. 29 km hinter dem Führenden. Mein Rückstand als Vierter betrug 45 Minuten. Jetzt wurde das Terrain jedoch anspruchsvoller. Der Parcours 1 hatte mehr als 2200 hm auf etwa 84 km zu bieten. Zudem enthielt er zahlreiche hochprozentige Rampen. Wiederholt waren Steigungen von mehr als 20% zu überwinden. Das erste Rücklicht, welches ich vor mir entdeckte, gehörte Mariusz Cap Nr. 27, der sich in den Abfahrten zurückhalten musste, da seine Hauptbeleuchtung Aussetzer hatte. Als Nächstes holte ich Björn Cap Nr. 26 ein, mit dem ich mich bereits am Start unterhalten hatte. Jetzt war etwas mehr Zeit für Gespräche. Ich habe seine Gesellschaft genossen, wurde aber irgendwann müde und ließ mich zurückfallen. Nach einiger Zeit war die Müdigkeit verflogen. Ich überholte Björn und begann den (einmal wieder) extrem steilen Anstieg zum CP 1 Studzionki. Am Kontrollpunkt kam ich wenige Minuten vor Björn an, wo mich die freiwilligen Helfer und der Organisator Paweł aka Piko erwarteten. Ich machte mich unmittelbar wieder auf den Weg. CP 1 hatte ich als Erster erreicht, da sich Roman Cap Nr. 33, wie ich später erfuhr, zuvor schlafen gelegt hatte.
Nächtliches Treffen mit Björn Cap Nr. 26 am CP 1 Studzionki
Foto von Tadek Ciechanowski, https://tadekciechanowski.myportfolio.com/
CP 2 Obidza war nicht sonderlich weit entfernt. Nach etwas mehr als 3 Stunden ließ ich mir dort den zweiten Stempel auf die Brevetkarte setzen. Dieser musste jedoch hart erarbeitet werden, da die Auffahrt zur Kontrollstelle erwartungsgemäß supersteil war. Spätestens hier stellte ich fest, dass ich eigentlich die falsche Übersetzung montiert hatte für diese RTPL-Rampen. Auf dem Weg zur Kontrollstelle erwachte ein herrlicher Spätsommertag, was über die Mühen hinweghalf. Zudem freute ich mich auf das nächste Helferteam sowie auf ein Wiedersehen mit der Besatzung des Mediacars (Sebastian, Adrian und Organisator Piko). Meinen Vorsprung auf Björn Cap Nr. 26 konnte ich nun immerhin auf eine halbe Stunde ausbauen.
CP 2 Obidza: kaum angekommen, ging es gleich wieder in entgegengesetzter Richtung bergab
Foto von Adrian Crapciu, http://adriancrapciu.com/
Die Bedingungen waren perfekt, jedoch stand jetzt auf dem folgenden Parcours 2 ein Streckenabschnitt an, vor dem ich im Vorfeld erheblichen Respekt hatte. Ein 17 km langer Schotterabschnitt (bergauf und bergab) über den Żłobki-Pass. In der Auffahrt holte ich einen Mountainbiker ein, der zurecht verwundert über meine Radwahl war. Er hatte sicherlich das passendere Sportgerät. Bei unserem Gespräch erfuhr ich Wissenswertes über die Gegend und die bevorstehende Abfahrt, während wir die hervorragende Aussicht genossen und ich mit Traktionsproblemen kämpfte. Die Abfahrt würde ich sicherlich als rennraduntauglich bezeichnen. Sie war eine absolute Qual insbesondere für meine Fußsohlen. Ich sehnte den asphaltierten Untergrund heran und machte unverzüglich die fällige Supermarkt-Pause in Szczawnica sobald die Zivilisation wieder erreicht war. Die Füße hatten eine kurze Erholung bitter nötig. Erfreulicherweise haben Reifen und Schläuche den Offroad-Test unbeschadet überstanden und so setzte ich die Fahrt über den Parcours fort. Noch ca. 76 Parcours-km standen an. Immerhin auf befestigten Straßen und bei idealem Wetter. Somit bot sich eine tolle Gelegenheit, die Gegend und die Aussichten zu genießen sowie einige Höhenmeter zu sammeln. Am Ende des Parcours 2 hatte ich nach 29 Stunden in etwa die Hälfte der Gesamtdistanz absolviert, jedoch noch nicht die Hälfte der Höhenmeter. Die Fahrtrichtung lautete mittlerweile Nordwest. Abends erreichte ich Żywiec, wo ich mich mit Wasser und Nahrung eindeckte.
Südlich von Żywiec musste ich die Schnellstraße S1 umgehen. Es war bereits dunkel und ich fuhr blöderweise für wenige Meter auf die S1, bevor ich umgehend umdrehte. Im Nachhinein wurde das zurecht mit einer 30-minütigen Zeitstrafe geahndet, denn die Nutzung solcher Straßen ist für Radfahrer schließlich nicht gestattet. An der Stelle befand ich mich inmitten einer enormen Baustelle. Dort gab es kein Durchkommen, denn die Umgebung war komplett durch Baumaschinen aufgerissen. Ich versuchte dennoch, diese lehmige und klebrige Falle zu überwinden, bis ich irgendwann knöcheltief im Schlamm einsank. Hier ging es eindeutig nicht mehr weiter. Schließlich gelang es mir, nach einer Weile doch noch einen Umweg zu finden. Über eine Treppe, quer durch eine Wiese, einen Abwassergraben und über eine Leitplanke gelangte ich endlich wieder auf meinen eigentlichen Track. Die Bremsen waren komplett mit Schlammklumpen zugesetzt und mussten vor der Weiterfahrt zunächst davon befreit werden. Was für eine Sauerei! Dort hätte ich für ein paar 100 Meter auf die Nationalstraße fahren sollen, um mir den Dreck zu ersparen. Egal. Unbeirrt setzte ich das Rennen fort, bis ich den Parcours 3 erreichte. An dessen Ende befand sich die nächste Kontrollstelle und damit auch das nächste Zwischenziel. Auf dem Weg Richtung CP 3 Magurka Wilkowicka machte der dichte Nebel das Radfahren recht ungemütlich. Zu Feuchtigkeit und Kälte kam in der Auffahrt zum CP 3 selbstredend die Steilheit. Beste Zutaten für eine Radausfahrt um 2 Uhr nachts. Zwischenzeitlich hatte Krystian Cap Nr. 2 mehrere Konkurrenten überholt und war mein nächster Verfolger. An CP 3 betrug mein Vorsprung auf ihn etwas mehr als 3 Stunden. Hier oben an der Kontrollstelle gab es ein erneutes kurzes Wiedersehen mit Fotograph Adrian und Organisator Piko. Von den Helfern bekam ich den dritten Stempel und stürzte mich sogleich wieder in die Abfahrt, um mir in Bielsko-Biała an einer Tankstelle Vorräte zu beschaffen.
CP 3 Magurka Wilkowicka abgehakt, auf in die zweite Nacht
Foto von Adrian Crapciu, http://adriancrapciu.com/
Die folgenden 200 km bis zum nächsten Parcours sollten wieder einigermaßen flach sein. Eine Überführungsetappe quasi. Ich entschied mich, nicht zu rasten und stattdessen weiterzufahren. Morgens war ich wieder vom Nebel umringt. Dieser war sehr zäh und hielt sich sehr lange. Bis weit in den Vormittag fuhr ich mit Beleuchtung und Regenjacke. Obwohl es nicht geregnet hatte, war die Straße nass, sodass sogar auch die Überschuhe zum Einsatz kamen. Um die Ortschaft Nysa herum führte mich meine Route unvermeidbar über mehrere Gravelabschnitte. Insbesondere die Sektion am dortigen See war zudem ziemlich sandig und machte sämtliche Lenkmanöver entsprechend interessant. Kein Untergrund für schmale Rennradreifen, aber dennoch überwindbar. Wenig später lag ein kurzer Abschnitt auf der N46 auf meiner vorgeplanten Route. Wie sich in der nachträglichen Auswertung herausstellen sollte, wies dieser Abschnitt eine Länge von 1,1 km statt der zulässigen Maximallänge von 1,0 km auf. Hierfür musste ich eine weitere 30-minütige Zeitstrafe akzeptieren. Ja, Piko nimmt es sehr genau, was jedoch sicherlich gerechtfertigt ist, um die Fairness zu gewährleisten. Dieser Fehler wäre definitiv vermeidbar gewesen, wenn ich bei der Routenplanung genauer gemessen hätte. Lektion gelernt.
Um zum Start von Parcours 4 zu gelangen, war der Jaworowa-Pass zu erklimmen. Als Einstimmung auf die bevorstehende Kletterei sozusagen. Der Parcours selbst bot etwa 1450 hm auf lediglich 63 km. In der Auffahrt zum Spalona-Pass wurde ich vom Mediacar abgefangen. Das brachte mich nicht aus dem Rhythmus, wohl aber die grässliche Abfahrt Richtung Wójtowice. Ich rüttelte mich von Schlagloch zu Schlagloch, während mich meine Füße förmlich umbrachten. Als wäre es nicht genug, stand jetzt auch noch der nächste Kracher an, die Auffahrt zum CP 4 Wataszka. Mit viel zu niedriger Trittfrequenz kroch ich Meter für Meter voran. Absteigen und Schieben wäre keine Option gewesen und so biss ich mich bis nach oben durch. Das Absteigen vom Rad und das Erklimmen der Treppenstufen zu den Helfern war zugegebenermaßen sehr mühsam. Nichtsdestotrotz blieb ich nicht sehr lange, obwohl mein Vorsprung auf Krystian Cap Nr. 2 bereits auf 5 Stunden angewachsen war.
Fix und fertig am CP 4
Foto von Adrian Crapciu, http://adriancrapciu.com/
Nun stand allmählich das Finale an – zunächst ein kurzer selbstgeplanter Abschnitt (65 km), auf dem ich einen letzten Supermarktstopp einlegte, und anschließend der finale Parcours. Kurz vor 22 Uhr erreichte ich diesen letzten Parcours, der mit einer Kopfsteinpflasterauffahrt zum Walim-Pass begann. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit 60 schlaflosen Stunden unterwegs. Langsam bewegte ich mich also in Regionen des Schlafentzugs, die ich bis dato nicht kannte. Ich wusste nicht, ob mein Körper es mir erlauben würde, bis ins Ziel durchzuziehen ober ob ich doch noch von der Müdigkeit übermannt werden würde. Der Schlafmangel machte mir in den Anstiegen gewaltig zu schaffen. Gefühlt habe ich radfahrend geschlafen. Sobald ich jedoch am höchsten Punkt des jeweiligen Anstiegs angelangte, war ich plötzlich wieder hellwach und aufmerksam. Das wiederholte sich an jedem Anstieg. Daher sah ich keinen direkten Grund, um die Reißleine zu ziehen und etwas zu schlafen. Zudem sorgten die permanenten Begegnungen mit Hunden, wie in den beiden vergangenen Nächten, für ständige Action. Offensichtlich halten es die meisten polnischen Hundebesitzer nicht für nötig, die Grundstückstore über Nacht zu schließen, sodass die Köter einem mit entsprechender Geräuschkulisse hinterherlaufen. In der Regel sind sie aber faul und die Verfolgung ist nicht von langer Dauer, daher ließ ich es üblicherweise einfach über mich ergehen. Als sie aber in Gruppen kamen, wurde es einfach absolut nervig. Unbeirrt bewegte ich mich Kilometer um Kilometer Richtung Ziel, welches sich trotzdem nicht zu nähern schien. In den folgenden Stunden fuhr ich mich in eine Déjà-vu-Schleife. Es kam mir so vor, als würde ich immer und immer wieder das gleiche Dorf durchfahren, ständig die gleiche Kurve, das gleiche Schlagloch. Der Kopf spielte mir so langsam seine Streiche, während die Füße unglaublich schmerzten. Die letzten Kilometer zogen sich elendig lange dahin und ich konnte die erlösende Zielankunft kaum erwarten. Mental und körperlich war ich leergefahren. Schließlich kam ich um 3:35 Uhr überglücklich in der kleinen Ortschaft Ożary an bzw. um genau zu sein am Przystanek Raj (auf deutsch: Haltestelle Paradies) , dem Ziel. Der Hattrick war vollbracht. Was für eine Saison! Höchste Zeit, um sich ausgiebig auszuschlafen.
Erschöpfung, Erleichterung, Stolz und Zufriedenheit im Ziel
Foto von Adrian Crapciu, http://adriancrapciu.com/
Krystian Cap Nr. 2 kam als Zweiter 7 Stunden und 11 Minuten nach mir ins Ziel. Er hatte 4 km vor dem Ziel Bekanntschaft mit einem Ziegelstein gemacht und dabei sein Carbonvorderrad geschrottet. Zum Glück blieb er unverletzt, musste aber das letzte Stück zu Fuß zurücklegen und verpasste somit um wenige Minuten ein Finish unter 3 Tagen. Sehr schade, denn er zeigte ein sehr couragiertes Rennen. Mit ihm und den anderen Finishern hatte ich die Gelegenheit zu ausgiebigen Gesprächen und zum Austausch von Rennerlebnissen. Ich genoss den Aufenthalt im Zielbereich und die dortige Atmosphäre sehr. Mit Paul Cap Nr. 61 und Jair Cap Nr. 32 unternahm ich zwischendurch einen Recovery Ride nach Lądek-Zdrój, um dort unser Kaloriendefizit mit Kuchen und heißer Schokolade auszugleichen. Die Strecke hatte uns race director Paweł ausgearbeitet, daher war es dank mixed-surface und fast 1000 Höhenmetern eine Erholungsfahrt nach typischer Piko-Art. Unser Gemecker hielt sich dennoch in Grenzen, zumal sich der Spätsommer nochmal mächtig ins Zeug legte.
Riesen Kompliment an Piko, der eine hervorragend organisierte Veranstaltung auf die Beine stellte. Und natürlich besten Dank an alle freiwilligen Helfer und Unterstützer, die ein solches Event in dieser Art und Weise überhaupt ermöglichen.
1418 km, 17991 hm, 2 Tage 17 Stunden und 35 Minuten
offizielle Finish-Zeit: 2 Tage 18 Stunden und 35 Minuten dank der 1-stündigen Zeitstrafe
Fotos:
Adrian Crapciu
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und
Tadek Ciechanowski
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text: adam bialek
Hey Arno, danke für das positive Feedback! Bei mir war es ein diffuser Brei an Eindrücken und Erlebnissen, den es galt textlich zu verarbeiten. Die Berichterstellung war diesmal eine ziemliche Herausforderung.
Das glaube ich dir aufs Wort. Ohne dich, hätte ich jetzt noch Erinnerungslücken. Schreibe mir doch bitte einmal eine Private E-Mail. Ich hätte noch ein paar persönliche Fragen
Arno
Hallo Adam
sehr guter Text und sehr schön geschrieben. Ich habe Tage gebraucht, um die Fragmente zu einem einzelnen Bild zusammen zu fügen. MTB, Gravel, steil und noch steiler, Nebel, Kälte und Hunde! Ja, so war es! Ich freue mich auf RTPL#4
Weil es so schön war 🙂 war ich letztes Wochenende nochmal in PL und CZ und Piko und um ein Haar, hätte Piko und ich uns sogar getroffen. Ich bin gespannt, was du als nächstes angehst. Einen Tipp hast du ja schon abgegeben.