VIA – per Rennrad auf den Spuren Hannibals

Wir haben Ende Juli 2024, Zeit für mein Highlight-Rennen des Jahres. Von der Erstaustragung des VIA Race erfuhr ich im Herbst letzten Jahres und sagte im Grunde unmittelbar meine Teilnahme zu. Beim Kapitel 1, des als Trilogie angesetzten, VIA handelt es sich um ein typisches self-supported Ultradistanz-Rennen mit freier Routenwahl. VIA erstreckt sich über etwa 4000 km von Südspanien nach Süditalien erstreckt. Die Route folgt dabei annähernd den Spuren des, aus dem Geschichtsunterricht bekannten, karthagischen Generals Hannibal – daher auch der Titel VIA Hannibalis Chapter I. Die Route verbindet die meisten europäischen Bergketten und enthält eine Vielzahl von „gates“, die in beliebiger Reihenfolge zu durchqueren sind, ergänzt mit 2 „refuges“ an denen für 15 Minuten zu halten ist, um einen Kontrollstempel zu erhalten.

I Start Cartagena, Spanien
II A gate Picos de Europa, Presa die Riaño
II B gate Picos de Europa, Ojedo
III A gate Pyrenäen, Col du Pourtalet
III B gate Pyrenäen, Portet de Luchon
IV refuge Le Bezy
V gate Pas de Peyrol
VI refuge San Francesco al Campo, Velodrom „Francone“
VII gate Laghi del Nivolet
VIII gate Apennin, Cascata di Vidiciatico
IX Parcours Toskana, bei Asciano
X gate Apennin, Passo Godi
XI Finish Giovinazzo, Italien

Routenverlauf VIA Hannibalis Chapter I.

Die ungewohnt frühzeitige Anreise, 2 Tage vor dem Start, verlief zunächst wunderbar reibungslos. Auf dem letzten Anreiseabschnitt von 100 km, den ich per Fahrrad absolvierte, trat aber doch noch eine Komplikation auf. 7 km vor dem Startort Cartagena fing ich mir einen Platten ein. Das ist für sich alleine genommen keine große Sache, reiht sich aber passend in die Liste der Ärgernisse ein, mit denen ich bei diversen vorangegangenen Rennen zu kämpfen hatte. Die Panne war einmal mehr nicht förderlich, für das Vertrauen in das eigene Material. Die Beschaffung eines Ersatzschlauchs im lokalen Fahrradladen war die einzige verbleibende Aufgabe des Tages. Am Folgetag stand lediglich die Registrierung und ein Briefing, inklusive gemeinsamem Paella-Abendessen an – eine wunderbare Gelegenheit etliche alte Bekannte wiederzusehen. Zu meiner Verwunderung wurde ich mehrfach darauf angesprochen, wie locker ich wirken würde. Zum einen stand da nicht gerade mein erstes Sportevent bevor, und zum anderen habe ich mich im Vorfeld bewusst darauf besinnt, ohne jeglichen Druck daraufloszufahren. Dennoch hatte ich selbstverständlich eigene Leistungsansprüche und bin nach Cartagena gereist, um ein Rennen zu fahren.

Alter Bekannter Jair und ich, unmittelbar vor dem Start.

Dieses Rennen startete am Samstag, den 20.07.2024, um 9 Uhr, bei idealen Wetterbedingungen – zumindest auf den ersten Blick. Das Temperaturniveau war angenehm und der angekündigte Rückenwind versprach ein rasches Vorankommen. Nach den ersten Kilometern hinter einem Polizeifahrzeug aus der Stadt heraus nahmen wir Fahrt auf. Ich hatte die üblichen Verdächtigen um mich, die ich im vorderen Feld erwartet hatte, allen voran Lucas Becker, Cap 147 und Krystian Jakubek, Cap 145, sowie einige andere Fahrer, dich ich nicht kannte. Auch wenn sich unsere Wege hier und da trennten, fanden wir immer mal wieder zusammen. Erst einige Kilometer hinter Murcia war das Fahrerfeld ausreichend ausgedehnt. Nach etwa 100 bis 110 km vom Start hatte ich keine weiteren Fahrer in meiner direkten Umgebung. Wie die nachträgliche Auswertung zeigt, lag ich zur Mittagszeit bereits an erster Stelle. Mehr als die Konkurrenz beschäftigte mich jedoch der stetige Temperaturanstieg und der Wind, der die Richtung komplett gedreht hatte und nun von vorne kam. Ich vermied es konsequent die Temperaturanzeige zu prüfen, sonst wäre ich bei dem Anblick vom Rad gekippt. Später hörte ich Berichte von „weit mehr als 40°C“. In den Nachmittagsstunden behielt ich stets die vor mir liegenden Versorgungsmöglichkeiten im Auge, füllte obszön oft meine Trinkflaschen nach und versuchte der fatalen Mischung aus Gegenwind und Hitze zu trotzen.

Als ich kurz nach 21 Uhr Pedro Muñoz erreichte, wo ich letztes Jahr während Transibérica vorbeikam, begann ich mich auf die bevorstehende (nicht heiße) Nachtfahrt im Vollmond zu freuen. Bald tauchten die ersten „Madrid-Schilder“ auf. Ich war voll auf Kurs, den Großraum der spanischen Hauptstadt nachts hinter mich zu bringen. Dies gelang auch. Doch in der Anfahrt zur Sierra de Guadarrama nördlich von Madrid war der Wind selbst mitten in der Nacht unerträglich und das Vorankommen entsprechend beschwerlich. Beharrlich bewegte ich mich zum ersten nennenswerten Berg, den Puerto de Navacerrada (1858 m), dessen Gipfel ich um 6:20 Uhr erreichte. Für die Abfahrt habe ich mich fahrlässigerweise nur unzureichend angezogen. Demzufolge wurde es dabei entsprechend kalt. Passenderweise war in Segovia ohnehin ein Tankstellenstopp fällig. Andererseits hatte ich durchaus die Absicht den Vormittag zu nutzen, um Meter zu machen, bevor die erwartete Hitze zuschlägt. Über Valladolid ging es immer weiter Richtung Norden während sich zunehmend die bereits bekannte Kombination aus Gegenwind und Hitze einstellte. Spätestens jetzt musste ich mir eingestehen, dass mein überaus optimistischer Plan, wie weit ich bis zur ersten Schlafpause gerne kommen würde, nicht realisierbar sein dürfte. Aber egal. Ich war ausreichend damit beschäftigt den Füllstand in den Trinkflaschen, und potenzielle Versorgungsmöglichkeiten im Auge zu behalten.

Am späten Nachmittag näherte ich mich den Picos de Europa und damit den ersten beiden gates. An der Stelle war ich gespannt, wie die bevorstehenden Höhenmeter von der Hand gehen würden, insbesondere nach der bisherigen Temperaturbeanspruchung. Es lief sehr zufriedenstellend. Das gate „Presa die Riaño“ war schon bald durchquert und ich machte mich auf den Weg zum Anstieg auf den Puerto de San Glorio (1599 m), der mich vom nächsten gate „Ojedo“ trennte. Je näher ich dem Gipfel kam realisierte ich wie wolkenverhangen und neblig es hier oben war und befürchtete, dass die Sicht auf der sonnenabgewandten Ostseite noch schlechter sein könnte – eine unbegründete Sorge. Die Sonne brannte zwar nicht herunter, wie im gesamten Tagesverlauf, aber zumindest war die Sicht frei und die Straße schön trocken. Nach einem Gruß an die Organisatoren und Mediencrew, die sich am Gipfel platzierten, ließ ich es in der Abfahrt wie üblich laufen. Ein Videograf stand mit seinem Rad bereit, um mich auf der Abfahrt zu filmen. Dies gelang ihm nicht lange, da ich ihn wohl unmittelbar stehen ließ. Die spaßige, teilweise technische Abfahrt führte mich zum gate „Ojedo“. Damit war ein persönliches Minimalziel erreicht. Nach einem Blick auf die Uhr, einer Prüfung der Wetterprognose (der von Wolken verdunkelte Himmel machte mich skeptisch) und nachdem ich mit Nahrung und Getränken versorgt war, beschloss ich den bevorstehenden 1200 Höhenmeteranstieg zum Puerto de Piedrasluengas (1355 m) in Angriff zu nehmen und mir erst danach Gedanken über eine Übernachtungsmöglichkeit zu machen. Dieser Ansatz war nicht sonderlich smart. Nach über 36 Stunden im Sattel und einer Spaniendurchquerung von Süd nach Nord zeigte sich die Erschöpfung allmählich. Der Anstieg zog sich gewaltig. Die Stunden vergingen und ich erreichte die nächste nennenswerte Ortschaft Cervera de Pisuerga weit nach Mitternacht, ohne mich um eine Übernachtungsmöglichkeit gekümmert zu haben. Ich bog in das Ortszentrum ab, in der Hoffnung eine geeignete Lokalität zu finden und bemerkte einige vor einer Bar stehende Personen. Zu meinem Glück traf ich auf einen jüngeren, englischsprechenden, hilfsbereiten Einheimischen, der unmittelbar anfing herumzufragen und zu telefonieren. Er organisierte mir tatsächlich ein Zimmer in einem gästefreien Hotel, welches auch noch extrem günstig war. Ich war ihm sehr dankbar, zumal die Kleidung dringend ausgewaschen werden musste und der Körper ebenfalls nach etwas Hygiene schrie. Eigentlich wollte ich erst nach dem Schlaf zum ersten Mal einen Blick auf das GPS-Tracking werfen, um die Rennsituation zu prüfen, tat es jedoch bereits davor. Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass ich Führender war und mein nächster Verfolger Will Vousden, Cap 172 satte 5 oder 6 Stunden zurücklag. Nicht schlecht dafür, dass das Rennen erst seit 41 Stunden lief. Hier wurde mir bewusst, dass ich zuletzt in den Anfangsstunden des Rennens andere VIA-Fahrer gesehen hatte und wohl so bald niemanden von ihnen sehen werde. Irgendwie hat mich das in diesem Augenblick motiviert und ich konnte mir zufrieden den ersten verdienten Schlaf gönnen.

Bereits vor 5 Uhr morgens saß ich wieder auf dem Rad. In Erwartung des baldigen Sonnenaufgangs und der daraufhin rasch ansteigenden Temperaturen war ich lediglich mit kurzer Radhose, Trikot und dünner Regenjacke bekleidet. Lange vor den ersten Sonnenstrahlen musste ich feststellen, dass es einfach zu kalt war, um in dieser Konfiguration weiterzufahren. Nein, ich war sogar schon ziemlich ausgekühlt. Kein Wunder, die Temperatur lag unterhalb von 6°C. Ich zitterte mich zur nächsten Tankstelle, die glücklicherweise schon offen hatte. Drinnen umwickelte ich mich mit meinem Schlafsack und kauerte beinahe eine halbe Stunde vor mich hin, um mich irgendwie aufzuwärmen. Zu dieser Uhrzeit müsste die Sonne bereits aufgegangen sein. Sie tat sich jedoch schwer, durch die tief hängenden Wolken, bzw. den Nebel durchzudringen. So blieb es zunächst noch recht kalt. Die Sonne setzte sich jedoch erwartungsgemäß durch und der rasche Temperaturanstieg war unaufhaltsam. Gleichzeitig verlangsamte der aufkommende Wind allmählich das Vorwärtskommen, obwohl ich mich jetzt in östlicher Richtung bewegte, nicht nach Norden, wie in der Anfangsphase. Im Laufe des frühen nachmittags fand ich mich in einer Gegend mit zahlreichen scharfen, steilen Zacken wieder. Zunächst war ich etwas verwundert, bevor ich realisierte, dass ich gerade das südliche Baskenland durchquere. Natürlich gibt es hier steile Anstiege!

Kaum waren die meisten kräftezehrenden Hügel überwunden, quälte mich erneut der Wind. Die Hoffnung, dass sich die Windverhältnisse bessern könnten, sobald sich meine Fahrtrichtung hinter Pamplona auf Südost ändert, trieb mich an. So kam es tatsächlich auch. Gefühlt nahm ich wieder Fahrt auf. Ich war in körperlich guter Verfassung, wusste dass demnächst die kühleren Abendstunden anstehen und war entschlossen, die nächste Schlafpause in Frankreich einzulegen.

Bis dahin war der Weg allerdings noch ziemlich weit und zudem lag das nächste gate „Col du Pourtalet“ (1794 m) auf der Route und damit auch der ein oder andere Höhenmeter. Natürlich war es schade, dass ich den Gipfel erst kurz vor 1 Uhr nachts erreichte und somit optisch nicht viel von der Pyrenäenüberquerung mitbekam, obwohl der Mond auch in dieser Nacht die Umgebung fröhlich beleuchtete. Bis ich im französischen Laruns ankam, mich am örtlichen Brunnen um etwas Körperhygiene kümmerte und schließlich in den Schlafsack einpackte, war die Nacht bereits weit vorangeschritten. Mit dem absolvierten Stint konnte ich trotz der morgendlichen „Kältepause“ zufrieden sein. Mein im Vorfeld erstellter extrem optimistischer Plan sah vor, in Laruns zu nächtigen – also Punktlandung.

Im Anstieg zum Col de Peyresourde

Um etwa 5:45 Uhr machte ich mich erneut auf den Weg und orientierte mich zunächst aus den Pyrenäen heraus. Ich genoss die Stille am frühen Morgen. In einigen Senken hielten sich Tau und letzte Nebelschwaden, während einige Gipfel um mich herum von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet wurden. Gute 2 Stunden dauerte es, bis ich endlich eine Bäckerei am Ortsausgang von Lourdes fand und sogleich plünderte. Damit war ich gerüstet, um mich wieder in Richtung Pyrenäen zu orientieren, wo das nächste gate lokalisiert war. Im Laufe des Vormittags legte ich eine weitere Einkaufs- und Toilettenpause in Sarrancolin ein, bevor ich den Anstieg zum Col de Peyresourde (1569 m) begann. Von dieser Seite bin ich den Berg bereits 2021 während des Three Peaks Bike Race gefahren, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern, wie es mir damals erging – offenbar nicht zu schlecht. Am Fuße des Anstiegs in Arreau sah ich einen der Organisatoren Ian aus dem Augenwinkel und grüßte ihn hastig. Damit war klar, dass ich bald Gesellschaft bekommen würde. Ian war selbst mit dem Rad unterwegs und holte mich außerhalb der Ortschaft ein, um mich während der Fahrt zu interviewen. Etwas später gesellte sich ein Fotografenauto dazu. Den 18 km Berg, der im Grunde erst auf den letzten 7 km anspruchsvoller wird, bewältigte ich souverän und passierte auf der Abfahrt das gate „Portet de Luchon“. Nach der Abfahrt führte mich mein weiterer Weg aus den Pyrenäen heraus, grob in Richtung Toulouse. Für eine Weile wurde die Route recht flach, dafür wurde es aber erneut sehr warm. Spätestens als ich eine Reihe knackiger Wellen zu bewältigen hatte, war ich froh darüber, dass ich nicht nachmittags über die Pyrenäen klettern muss. Einige Kilometer vor dem ersten refuge „Le Bezy“ warf ich einen der seltenen Blicke auf das GPS-Tracking. Als ich in den Tag startete, befand sich mein nächster Verfolger Will Vousden, Cap 172 zwischen Pamplona und Jaca, also geschätzte 150 km zurück. Zum Abend hin dürfte ich den Vorsprung geringfügig ausgebaut haben, denn Will befand sich noch im Anstieg zum Col de Peyresourde, während ich beinahe am refuge ankam. Dort erhielt ich meinen ersten Stempel auf die Radmütze, der mein Vorbeikommen bestätigte und musste (wie alle anderen auch) regelgemäß 15 Minuten vor Ort bleiben. Die Zeit nutzte ich, um 2 Sandwiches to go zu ordern und eine Dusche zu nehmen. Es war definitiv noch zu früh, um Feierabend zu machen. Daher machte ich mich unmittelbar wieder auf den Weg Richtung Norden, um vor der Schlafpause möglichst weit an das Zentralmassiv heranzurücken, wo das nächste gate wartete. Ich fuhr in die Nacht hinein, vorbei an menschenleeren Dörfern und Städtchen, bis ich gegen 2 Uhr beschloss, einen geeigneten Schlafplatz zu suchen. Zu der Zeit war ich in Verfeil-sur-Seye, wo ich zunächst eine Weile vergeblich suchte. Schließlich fand ich am Ortsrand etwas Passendes, um mein Lager aufzuschlagen – so passend, dass ich sogar meinen Wecker verschlief, sofern ich mich richtig erinnere.

Über des Pas de Peyrol, dieses Jahr in Süd-Nord-Richtung.

Als ich gegen 6 Uhr erneut im Sattel saß ärgerte ich mich über die verplemperte Zeit. Gerade mit Hinblick auf meinen mehrfach erwähnten optimistischen Masterplan. Dieser war darauf ausgelegt, am Abend des 25.07. am Fuße des gates „Laghi del Nivolet“ in Italien anzukommen, um das gate noch bei Tageslicht zu erreichen. Um genauer zu sein, war schon viele Kilometer vorher in Frankreich eine relevante Routenentscheidung zu treffen, die die Anfahrt Richtung „Laghi del Nivolet“ vorgeben sollte. Falls es mir nicht gelingen sollte, den Plan einzuhalten, wäre eine Routenentscheidung hinfällig gewesen und ich hätte mich für die weniger effiziente Variante entscheiden müssen. Also musste ich mich von nun an 36 Stunden ranhalten, ohne Zeit zu vergeuden, um das selbstgesteckte Teilziel zu erreichen. Leider verschwendete ich auf der Suche nach Nahrung erneut Zeit. Ich brauchte unbedingt Nachschub und drehte in Villeneuve, dem ersten größten Ort, den ich an diesem Morgen erreichte, unnötige Kreise. Ich befragte sogar mehrere Passanten und jeder schickte mich in eine andere Richtung. Das war extrem frustrierend. Schließlich wurde ich jedoch fündig und deckte mich an einer Bäckerei ein. Von da an hieß es aber „Meter machen“. In Aurillac legte ich einen Supermarktstopp ein und befüllte meine Trinkflaschen für den bevorstehenden Abschnitt durch das französische Zentralmassiv. Dort befand sich auch ein weiteres gate und zwar der höchste Pass des Zentralmassivs „Pas de Peyrol“ (1588 m), den ich letztes Jahr während des Three Peaks Bike Race in entgegengesetzter Richtung befuhr. In Gipfelnähe wartete mir ein weiterer Fotograf auf – immer wieder nett. Schon kurz nach dem gate realisierte ich, dass gesicherte Versorgungsmöglichkeiten auf meiner heutigen Route äußerst rar sind. Somit tätigte ich in Massiac bereits vor 17 Uhr einen Großeinkauf, mit Hinblick auf den Abend, die Nacht und ggf. den nächsten Morgen. Ich schleppte den unverzichtbaren Ballast über viele Stunden. Gegen Mitternacht passierte ich Saint-Étienne und kam zügig durch die Stadt. Tagsüber wäre das sicherlich ein nerviges und vor allem zeitintensiveres Unterfangen gewesen. Ich war noch lange nicht bereit, eine Pause einzulegen und fuhr weiter über Givors bis nach Saint-Quentin-Fallavier, wo ich gegen 2:30 Uhr ankam. Diesmal investierte ich bewusst nicht zu viel Zeit für die Schlafplatzsuche. Stattdessen widmete ich mich der ausgiebigen Pflege des Sitzbereichs, der sich den ganzen Tag über nicht sonderlich gut anfühlte. Sobald dies erledigt war, richtete ich mir zügig den Schlafplatz ein und stellte den Timer auf überschaubare 1,5 Stunden. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt meinem Fahrplan etwa 2 Stunden voraus war, wollte ich mir so viel Reserve erarbeiten wie möglich. Es galt sicherzustellen, dass ich rechtzeitig zur Stelle der bevorstehenden Routenentscheidung komme, bzw. bei Tageslicht an den Fuß der „Laghi del Nivolet“.

Der Wecker riss mich aus dem Schlaf und ich sprang unmittelbar auf, um mich fahrbereit zu machen. Ich hatte keine Zeit, um über eine etwaige Müdigkeit nachzudenken. In den nächsten Stunden arbeitete ich mich nach Chambéry vor. Nach der mühsamen Stadtdurchfahrt hielt ich am dortigen Supermarkt. Genau hier hatte ich mich auch beim Three Peaks Bike Race eingedeckt. Danach erreichte ich exakt um 10:39 Uhr die Stelle, an der ich meine Routenentscheidung zu treffen hatte.

A:
Über Albertville weiter nach Bourg-Saint-Maurice. Anschließend über den Col du Petit-Saint-Bernard nach Italien und dann herunter in das Aostatal. Danach Richtung Süden nach Pont, wo mich ein unfahrbarer Wanderweg vom 8 oder 9 km Länge zum gate „Laghi del Nivolet“ erwarten würde.

B:
Rechts abzweigen Richtung Modane und über den Col du Mont-Cenis nach Italien. Anschließend eine Schleife Richtung Turin und danach das gesamte Orco-Tal hinauf zum gate.

Auf dem Papier deutete alles auf die Option A, da sie ggü. Option B mindestens 90 km kürzer ist und mehrere Hundert Höhenmeter weniger aufweist. In der Praxis war es mir vollkommen bewusst, dass die Wanderoption sicherlich auch Energie und Zeit kosten würde. Zudem hatte ich definitiv nicht das richtige Schuhwerk, um mich auf felsigem Untergrund fortzubewegen. Aber ich war vorbereitet. Im Vorfeld hatte ich aus erster Hand Informationen über die Beschaffenheit des Wanderwegs erhalten. Besten Dank Bernhard! Zudem recherchierte ich im Rahmen der Vorbereitung nach Möglichkeiten der Schuhbeschaffung. Das Wichtigste war jedoch, dass ich mich bereits vor dem VIA-Start damit angefreundet hatte, die Wanderung als valide Option zu akzeptieren – etwas das ich im Regelfall kategorisch ablehnen würde.

Trotz des beachtlichen Vorsprungs, den ich mir im bisherigen Rennverlauf erarbeitet hatte, wollte ich den zig Kilometer langen Umweg nicht in Kauf nehmen und damit meinen Vorteil teilweise verspielen. Mir war klar, dass Lucas, Cap 147 und Krystian, Cap 145 die Wanderoption wählen würden (was sich auch bewahrheitete) und außerdem war ich gut in der Zeit. Dank der guten Vorarbeit dürfte ich den Wanderweg noch bei Tageslicht erreichen. Damit war die Entscheidung gefallen – Option A.

Ab Albertville hatte meine Route für 50 km einen aufsteigenden und teilweise sehr unrhythmischen Verlauf. Die Anfahrt nach Bourg-Saint-Maurice gestaltete sich somit sehr mühsam, auch aufgrund der erneut hohen Temperaturen am frühen Nachmittag. Gegen 14 Uhr erreichte ich den dortigen Intersport-Laden, kaufte ein Paar günstige Sneaker und besorgte mir eine Kleinigkeit zum Essen, sowie Getränke. Nach dem bisherigen Tagesverlauf fühlte ich mich alles andere als frisch, begab mich aber unvermittelt in den 26 km langen Anstieg zum Col du Petit-Saint-Bernard (2188 m). Während der Kletterei überkam mich die Sorge, dass ich mich vielleicht doch verschätzt hatte und die bevorstehende Wanderung doch nicht bei Tageslicht zu schaffen wäre. Ich versuchte die verbleibenden zu fahrenden Höhenmeter bis Pont zu ermitteln, sie mit der übrigen Distanz zu verrechnen und hochzurechnen, wann ich dort ankommen würde (vom Beginn des Anstiegs zum Col du Petit-Saint-Bernard, bis nach Pont immerhin 94 km mit saftigen 2600 Höhenmetern). Das Ergebnis war immer das Gleiche. Ein Umdrehen samt Wechsel auf Option B kommt nicht in Frage und ich muss durchziehen. Dies jedoch ohne mich an den beiden Anstiegen komplett kaputt zu fahren, zumal ich definitiv Respekt vor der Wanderung hatte. Als Vorsorgemaßnahme hielt ich noch einmal an einem Supermarkt im Aostatal und füllte die Vorräte auf. Man weiß ja nie. Vielleicht würde ich irgendwo am Berg hängenbleiben und müsste dort einige Stunden überleben.

Fahrräder sind nicht dazu gemacht, um sie herumzutragen, sondern um sie zu fahren.

Nach dem Einkauf folgte ich dem tief eingeschnittenen Tal nach Süden, wobei Tal nicht ganz zutreffend ist. Ich befand mich in einer weiteren zig Kilometer langen Steigung, wo es aufgrund der umliegenden Bergriesen zunehmend dunkler wurde. Nach einiger Zeit erreichte ich das Ende der asphaltierten Straße, erledigte den fälligen Toilettengang schlüpfte in mein neues Wander-Schuhwerk und legte in weiser Voraussicht Armlinge, Beinlinge und Jacke an. Ich befand mich auf knapp 2000 Metern Höhe und würde noch einige Hundert Höhenmeter weiter nach oben steigen. Um etwa 20:30 Uhr betrat ich den Wanderweg. Lange dauerte es nicht, bis das Schieben nicht genügte und ich mein Rad über hohe Stufen tragen musste. Mir war bekannt, dass die Wanderroute auf den ersten Kilometern seil und technisch sein würde. Das Besteigen der hohen felsigen Stufen kostete Kraft und auch das Tragen des Fahrrads, obwohl ich mein Setup als eines der Leichtesten einschätzen würde. Immerhin kamen mir um diese Uhrzeit zunächst keine Wanderer von oben entgegen, mit der Ausnahme von 3 verdutzten Personen. Sie waren sichtlich darüber verwundert, wo ich mein Rad bei bevorstehender Nacht hinschleppe. Nach einer Weile hielt ich kurz an, um durchzuatmen und mich zu orientieren. Beim Blick nach oben erkannte ich erst eine undurchdringliche Felswand und konnte beim Blick auf das Navigationssystem nicht glauben, dass ich dort hoch soll. Ich schaute erneut nach oben. Da steht doch jemand! Zwei VIA-Fotographen hatten sich dort tatsächlich zur späten Stunde platziert, um mich abzufangen. Ich winkte kurz und setzte den Aufstieg fort. Die Frage, was die beiden hier treiben würden konnte ich mir nicht verkneifen, da ich von ihrer Anwesenheit mehr als überrascht war. Die gleiche Frage wandten sie auch an mich und ich musste schmunzeln. Man hatte nicht erwartet, dass ich die Wanderoption wählen würde. Den Leuten war nicht entgangen, dass ich mit Rennradschuhen am Start stand, die für ein solches Gelände völlig ungeeignet sind. Außerdem ist meine Einstellung zu Offroad-Passagen bei Straßenrennen hinlänglich bekannt. Der Aufstieg war anstrengend und ich musste trotz rasch sinkender Temperaturen mächtig schwitzen. Die Jacke wurde abgelegt. Ich überwand Stufe um Stufe und gewann schnell an Höhe. Mit der Zeit ließ meine Konzentration offenbar nach. An einer Felsenstufe rutschte ich ab, während ich mein Rad mit einer Hand hochhielt, um es drüberzuheben. Mit der anderen Hand versuchte ich den Sturz abzufangen. Dies gelang auch einigermaßen. Das Rad war noch ganz, aber dafür hatte ich mir das ganze Schienbein aufgeschürft. Zudem verletzte ich mich an der Hand, die ich zum Abstützen ausgefahren hatte. Zunächst konnte ich nicht exakt lokalisieren, was da angeknackst sein könnte. Ich ging aber davon aus, dass es halb so wild sein dürfte und der Schmerz bald nachlassen sollte. Leider war dem nicht so. Scheinbar hatte ich mir beim Ausrutscher den Mittelfinger verstaucht, oder die Kapsel verletzt. Bis zur Abfahrt vom Colle del Nivolet hatte ich zwar noch ein Stück vor mir, brauchte jedoch spätestens dort einen funktionierenden Mittelfinger – für die nächtlichen abschüssigen Serpentinen. Zu lange hielt ich mich mit der Analyse der Verletzungen nicht auf, da allmählich die Nacht einbrach. Im Großen und Ganzen kam ich in etwa 40 Minuten durch den steilen, technischen Teil und gelangte an eine Abzweigung. Ich hätte hier dem regulären, ggf. weiterhin unwegsamen, Wanderweg Richtung Colle del Nivolet folgen können, oder aber rechts abzweigen, um mich zu einem parallel dazu verlaufenden Pfad durchzuschlagen. Von diesem Pfad hatte ich mir erhofft, dass er fahrbar sein könnte, also bog ich nach rechts ab. Schon bald fand ich mich vor einem ungeordneten steilen Felsenmeer wieder. Wo soll hier ein Wanderweg sein? Zum Teil konnte ich lediglich anhand der in die Felsen eingelassenen Metallstege erkennen, dass es dort entlang gehen dürfte. Erneut waren fahrradtragend hohe Stufen zu überwinden. Zweimal rutsche ich neben einem Abhang ab und musste mich trotz aller Eile dazu ermahnen, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Ein Absturz samt Knöchelbruch wäre ziemlich ätzend gewesen.

So ganz genügte das Tageslicht nicht, um die gesamte Wanderpassage zu absolvieren.

Irgendwann erreichte ich dann doch den angepeilten Parallelpfad, nur um festzustellen, dass er doch nicht befahrbar war. Zumindest wollte ich zu dem Zeitpunkt nichts riskieren. Inzwischen war es dunkel und ich war durchgeschwitzt während es immer kälter wurde. Ich musste so schnell wie möglich raus aus dem Hochgebirge und hatte keine Lust darauf, in der Dunkelheit eventuelle Reifenpannen zu beheben. Daher legte ich die restlichen 4,5 Kilometer bis zur Asphaltstraße vorwiegend gehend zurück. Zwischendurch stellte ich mich auf ein Pedal und ließ mich rollen, oder pedalierte ein paar Meter, kam aber dennoch viel zu langsam voran – ein lästiges Geduldspiel. Mit der Absicht, ein Lebenszeichen in die Welt rauszusenden holte ich das Handy raus, nur um festzustellen, dass hier oben der Empfang fehlt. Natürlich. Ein nächtlicher Knöchelbruch wäre also in der Tat äußerst ungünstig gewesen. Die beiden Fotographen schlugen sich ebenfalls Richtung Zivilisation durch. Sie waren schneller, als ich an der Schranke, die das Ende (für mich Anfang) der Asphaltstraße kennzeichnete. Zugleich befand sich dort das langersehnte gate „Laghi del Nivolet“. Dort konnte ich endlich wieder auf die Radschuhe wechseln und mich für die restlichen Höhenmeter zum Gipfel des Colle del Nivolet, sowie die anschließende lange Abfahrt rüsten. Diesen Vorgang dokumentierten die Fotografen fleißig. Zum Glück funktionierte mein Mittelfinger ausreichend gut. Zumindest war ich in der Lage den Bremshebel zu ziehen, während das Ausstrecken und so ziemlich alle anderen Handbewegungen weiterhin Schmerzen verursachten. Ich stürzte mich in die anfangs mit zahlreichen Serpentinen gespickte und durchaus technische Abfahrt. Auch nachdem ich die erste Dörfer und Ortschaften passierte blieb es rasant. Dank des starken Gefälles und fehlenden scharfen Kurven raste ich durch das Orco-Tal – zum Teil durch Tunnel und Galerien. Die zig Kilometer lange verkehrsfreie Abfahrt bereitete mir große Freude. Zugleich musste ich daran denken, wie unglaublich kräftezehrend die Auffahrt aus dieser Richtung gewesen wäre, falls ich mich für die Option B entschieden hätte. Ich näherte mich zügig dem zweiten refuge „San Francesco al Campo“, welches sich am dortigen Velodrom „Francone“ befand. Zunehmend wurde der Untergrund flacher und ich erinnerte mich, dass ich vor lauter Wanderstress die Nahrungsaufnahme vernachlässigte, also vernichtete ich meine restlichen Vorräte. Quasi ein Mitternachtssnack, denn um 1:38 Uhr kam ich am refuge an, wo ich zur späten Stunde von zahlreichen Helfern begrüßt wurde. Dort erhielt ich meinen zweiten Stempel und nutzte die vorhandene Infrastruktur, um eine Dusche zu nehmen und die Bekleidung auszuwaschen. Beides war zwingend erforderlich. Ich schnappte mir eines der zur Verfügung gestellten Feldbetten und begab mich in eine ausgiebige Schlafpause, zumindest ausgiebiger als die 1,5 Stunden in der vorangegangenen Nacht.

Zweiter Stempel auf die Radmütze am Velodrom „Francone“

Morgens schlüpfte ich in die noch feuchte Arbeitskleidung. An diesem Tag stand mir eine Durchquerung der Po-Ebene bevor, was definitiv nicht mit besonderer Vorfreude verbunden war. Zu meiner Überraschung war der Himmel an diesem Vormittag bewölkt und ich wurde ausnahmsweise nicht von Anfang an von der Sonne geröstet. Dies änderte sich, als sich die Wolken zum Mittag hin verflüchtigten. Zudem stellte sich Gegenwind ein – natürlich. Damit war die spanische Kombination aus Hitze und Wind wiederhergestellt, garniert mit einem ekelhaft dichten italienischen Verkehr und zahlreichen blödsinnigen Überholvorgängen. Passend dazu war mein verletzter Mittelfinger dauerhaft ausgestreckt, aufgrund der immensen Schwellung, die jegliche Beugung beeinträchtigte. Immerhin konnte ich die Hand beim öden Herumrollen im norditalienischen Flachland schonen, da Schaltung und Bremse sehr selten zu betätigen waren. Als ich in den Tag startete, hatte ich noch die bescheidene Hoffnung dieses Flachland schnell und effizient überwinden zu können. Die Hoffnung musste leider begraben werden. Teilweise konnte ich lediglich etwas mehr als 2 Stunden in Bewegung bleiben, bevor die Trinkflaschen erneut befüllt werden mussten. Ich sehnte mich dem Sonnenuntergang und dem Apennin entgegen. Abends durchfuhr ich die Ferrari-Stadt Maranello und bog kurz danach Richtung Süden ab. Damit nahm ich Kurs auf das nächste gate „Cascata di Vidiciatico“. Bevor ich es weit nach Mitternacht durchquerte, waren noch einige Hundert Höhenmeter zu überwinden, was mir angesichts des bisherigen Tagesverlaufs als willkommene Abwechslung vorkam. Nach der Abfahrt suchte ich mir einen Schlafplatz in der Ortschaft Silla und beendete meine Schicht. Als ich mich in den Schlafsack legte und zur Ruhe kam, tobte eine der Wunden an meinem Schienbein. Dennoch schlief ich unverzüglich ein.

Nach der Schlafpause inspizierte und versorgte ich die Wunde. Sie begann sich offenbar zu entzünden. Nach erneuter Desinfektion nahm ich mir vor, sie regelmäßig zu kontrollieren und startete den Tag direkt mit einem 500 Höhenmeter-Anstieg. Daraufhin folgte eine wunderbare Abfahrt nach Pistoia, wo ich mich unmittelbar mit Nahrung und Getränken eindeckte. Von dort aus orientierte ich mich stets Richtung Süden. Zwischendurch führte mich meine Route überraschenderweise auf eine Kraftfahrstraße, sodass ich spontan umplanen musste. Ich wählte eine Umfahrung über 2 steile Hügel, die ich mir in der Nachbetrachtung hätte sparen können. Hier gab es eine deutlich entspanntere Alternativroute, die mir im Eifer des Gefechts entging. Ich arbeitete mich im Laufe des Nachmittags nach Siena vor und erreichte bald danach den Start des ca. 11,5 km langen Parcours, den ich als Hauptaufgabe des Tages definierte. Hier stand mir eine typisch toskanische Gravelpiste bevor, bekannt aus dem Profirennen Strade Bianche, oder der historischen Radveranstaltung L’Eroica. Selbstverständlich hatte ich absolut keine Lust auf diesen Sektor. Zur Aufmunterung erinnerte ich mich selbst daran, dass es lediglich ein sehr sehr kurzer Abschnitt eines beinahe 4000 km langen Rennens ist. Das wird doch zu schaffen sein. Gleich zu Beginn merkte ich, wie hoch und lose die Gravelschicht stellenweise war. Die Reifen sanken im Schotter ein und selbst bei sanften Lenkbewegungen rutschte ich über das Vorderrad. Damit war mir klar, dass ich hier Vorsicht walten lassen muss, um nicht auf der Nase zu landen. Leider gelang dies nicht allen nachfolgenden Fahrern und mindestens einer musste nach einem Sturz auf dem Parcours das Rennen aufgeben. Steile Abfahrten wechselten sich mit noch steileren Anstiegen ab. Insbesondere bergauf musste ich alle (bedingt vorhandenen) Offroadskills auspacken, um für genügend Traktion und Vortrieb zu sorgen und die nächste Kuppe zu erreichen. Viel schlimmer waren jedoch die Senken. Der lose Schotter war hier vom Regen zum querverlaufenden Waschbrett geformt. Daher war es unmöglich, den Schwung aus den Abfahrten in die Anstiege mitzunehmen. Einmal hatte ich es versucht und war froh darüber, dass mein Rad nicht in seine Einzelteile zerfiel, als ich auf das Waschbrett traf. Ich konnte mich auf dem Rad halten, bekam aber spätestens ab dieser Stelle nichts von der wahrscheinlich hübschen Landschaft mit. Der Blick war wenige Meter vor dem Vorderrad auf den Boden fixiert, um heil durch den Parcours zu kommen. Immerhin war es auf dem Gravel verkehrsarm. Lediglich 2 belgische Autos kamen mir entgegen – beide sehr behutsam und ziemlich langsam. Zudem ein italienischer Idiot im Land Rover, der jedoch einfach draufhielt und mich beim vorbeifetzen mit Steinen bombardierte. Sobald ich den Parcours überstanden hatte, steuerte ich den nächsten Brunnen an. Dort prüfte ich die Reifen in Ruhe auf Beschädigungen – alles gut, es kann weitergehen. Nach einer Weile passierte ich bei Sonnenuntergang den Lago Trasimeno, kaufte nochmals ein und setzte die Fahrt über welliges Terrain fort. Zur nächsten größeren Stadt Terni wollte ich noch gelangen und überlegte, mir ein Hotelzimmer zu nehmen. Die Idee verwarf ich jedoch und suchte mir stattdessen einen Brunnen und eine Grünfläche – musste reichen.

Leider hatte ich es versäumt, Gehörschutz einzusetzen. Infolgedessen wurde mein Schlaf durch irgendein permanentes unidentifizierbares Piepsen gestört. Zudem machte sich erneut die Wunde an meinem Schienbein bemerkbar. Die Entzündung schien sich nicht ausgebreitet zu haben, aber die Wunde erforderte eindeutig mehr Pflege, als das was ich „on the road“ realisieren konnte. Als der Wecker klingelte fühlte ich mich einigermaßen OK und erledigte den ersten Anstieg aus Terni heraus. Schon bald überkam mich aber die Müdigkeit. Außerdem war mir unerwartet kalt. Ich musste tatsächlich die Jacke anlegen und konnte es kaum erwarten, Rieti zu erreichen. Mit der Hoffnung, dass es mich aus dem Durchhänger herausziehen würde, hielt ich an der erst besten Bäckerei. Die Nahrungszufuhr wirkte zunächst, doch gegen 9 Uhr konnte ich nicht mehr und ließ mich im Sonnenschein auf einer Bank am Straßenrand nieder. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht die Energie, um den Wecker zu stellen und legte mich kraftlos zum Powernap hin. Ein neben mir anhaltendes Fahrzeug wecke mich nach 14 Minuten. Es war ein zufällig vorbeifahrender Krankenwagen. Die Sanitäterin erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Ich stammelte, dass ich okay bin – naja schon weitestgehend okay, aber auch verdammt müde. Hilft nichts, zurück aufs Rad. Nach einem Anstieg folgte für etwa 40 km recht flaches Terrain. Obwohl mir zumindest die Augen nicht mehr ständig zufielen, kam ich gefühlt dennoch nicht sonderlich zügig voran, auch weil es einmal mehr sehr heiß wurde. Ich kletterte über einen Pass mit dem lustigen Namen Passo del Diavolo (1400 m). Nach der Abfahrt erwischte mich zwischen den Ortschaften Opi und Villetta Barrea ein lokales Gewitter mit Starkregen. Auch einige Hagelkörner prasselten herab. Jedoch war der Spuk im Großen und Ganzen bereits beendet, als ich aus südlicher Richtung den Anstieg zum nächsten gate „Passo Godi“ (1630 m) in Angriff nahm. Inzwischen war es schon nach 16 Uhr und ich hatte den Eindruck, dass ich jetzt erst aufgewacht bin. Die Gewitter-Dusche mag durchaus dazu beigetragen haben. Während der Auffahrt kam mir Jon vom Medienteam auf dem Rad entgegen. Er gesellte sich zu mir und interviewte mich. Weiter oben platzierten sich auch die Organisatoren Ian und Ingeborg. Ich grüßte sie, fuhr ein Stück zu den erforderlichen Koordinaten und drehte wieder um, da es von hier aus durchgehend nach Südwesten ins Ziel ging. Ja tatsächlich! Alle gates und refuges waren absolviert und mir verblieb lediglich das finale Segment zum Ziel in Giovinazzo.

Soweit wollte ich jedoch zunächst noch nicht denken und stellte lediglich einen kurzfristigen Plan auf. Das Essen war aufgebraucht und ich peilte einen Supermarkt in Isernia an. Bis dorthin hatte ich noch einige Kilometer und 3 Hügel vor mir, Valico di Barrea (1171 m), Valico di Rionero Sannitico (1040 m) und Valico del Macerone (685 m). Ich spulte die Anstiege nacheinander ab und stellte auch schon grob Überlegungen zur Routenwahl an. Vom letzten gate „Passo Godi“ hatte ich im Vorfeld 3 unterschiedliche Routenvarianten erarbeitet. Favorisiert hatte ich von Anfang an eine im Inland verlaufende Route. Nach dem Einkauf in Isernia legte ich mich endgültig auf diese Variante fest und folgte von dort aus einer strada statale, die selbst jetzt in den Abendstunden relativ stark befahren war. Das empfand ich als mental sehr anstrengend. Kaum war es dunkel geworden, wurde ich erneut extrem müde. Als ich mich Campobasso näherte, fasste ich den Entschluss zu pausieren. Von dort aus waren es eigentlich nur noch etwa 210 km bis ins Ziel. Ich hätte in der Nacht durchziehen können, um unter 9 Tagen zu finishen, entschied mich aber dagegen. Die Nacht zuvor war ohnehin nicht sonderlich erholsam, sodass ich mich durch den Tag quälen musste. Anstatt auf dem Zahnfleisch ins Ziel zu kriechen, zog ich es vor, die letzten verbleibenden Kilometer zu genießen. Ich suchte mir eine Unterkunft und gönnte mir die zweite Hotelübernachtung im gesamten Verlauf des Rennens – erste und letzte Schlafpause im Hotel sozusagen. Den Wecker stellte ich erst auf 3 oder 3,5 Stunden. Als er klingelte und ich aus dem Bett aufstand, fühlte ich mich unsicher auf den Beinen und zog es vor weiterzuschlafen, statt sich in diesem Zustand auf das Rad zu setzen. Die Schlafpause fiel somit verhältnismäßig lang aus. Zumindest war ich damit für eine hoffentlich nette Fahrt ins Ziel gerüstet.

Trotz der ungewohnt langen Schlafpause war es noch immer dunkel, als ich mich wieder in Bewegung setzte. Vorher desinfizierte ich die entzündete Wunde am Schienbein ein weiteres Mal und deckte sie ab. Die Fahrt durch das Gewitter an Vortag war sicherlich nicht förderlich für die Heilung, aber zumindest konnte ich keine optische Verschlechterung feststellen. Im Laufe des Vormittags führte mich meine Route nochmals auf eine Höhe von 791 Metern. Von dieses Anhöhe aus konnte ich das erste Mal das adriatische Meer in der Ferne erblicken. Die Vorfreude auf diesen Augenblick begleitete mich schon seit Tagen. Eine letzte kurvenreiche spaßige Abfahrt folgte. Anschließend ging es über viele Kilometer tendenziell abschüssig Richtung Küste. Hier fing ich mir tatsächlich unmittelbar vor Foggia meinen ersten Platten ein. Dies passierte direkt neben einer Tankstelle, sodass ich die bescheiden Hoffnung hatte, dass ich mir das hantieren mit der Minipumpe sparen könnte. Fehlanzeige – keine Druckluft! Benzin und Cappuccino sind das einzige, was an italienischen Tankstellen zu bekommen ist. Der Schaden war trotzdem rasch behoben. In Foggia hielt ich an einem Fahrradladen, um mir eine Standpumpe auszuborgen. Ich möchte doch den Untergrund spüren, also sorgte ich für anständigem Druck im Reifen. Hinter Foggia schob mich unerwartet ein beachtlicher Rückenwind voran. Für einen Augenblick dachte ich, dass die letzten 100 VIA-km die schnellsten des gesamten Rennens werden könnten. Jedoch dann legte jemand plötzlich den Wind-Schalter um – von einem Augenblick auf den anderen. Obwohl meine Fahrtrichtung unverändert blieb, drehte der Wind innerhalb von Sekunden um 180°. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Der verbleibende Küstenabschnitt würde sich also doch noch gewaltig in die Länge ziehen und meine Geduld auf die Probe stellen. Ich akzeptierte, dass die finalen Kilometer langsam sein würden und beschloss mich weder vom Gegenwind, dem schlechten Straßenbelag und den ständigen bescheuerten Überholvorgänge der hiesigen Autofahrer nerven zu lassen.

Im Ziel. Nein, die Trinkflaschen sind nicht mit Sekt befüllt.

So erreichte ich dann doch gut gelaunt das Ortsschild von Giovinazzo. Das offizielle Finish lag im Ortszentrum am Municipio, wo mich Ian, Ingeborg und Jon als Gewinner des ersten VIA-Kapitels begrüßten. Der initialen Erleichterung, dass ich nach den großen Anstrengungen der vergangenen Tage endlich das Ziel erreichte, wich die Freude darüber, dass ich nun im Schatten bleiben konnte. Keine ganztägige Röstung mehr in der prallen Sonne. Unweigerlich überkam mich ein Gefühl der Zufriedenheit und der Stolz über das Erreichte. In der nachträglichen Analyse realisierte ich, dass ich das Rennen von Anfang an dominierte, mir bereits sehr früh einen beachtlichen Vorsprung erarbeitete und letztlich souverän gewann. Diese Dominanz hatte ich sicherlich nicht erwartet, fühlte mich aber dadurch umso mehr darin bestätigt, dass ich offenbar alles richtig gemacht hatte – sowohl in der Vorbereitung, als auch während des laufenden Rennens. Die Hoffnung auf ein perfektes Ultrarennen über diese Distanz ist eigentlich eine Utopie, weil immer Dinge schiefgehen. Trotzdem würde ich behaupten, dass mein VIA Race so perfekt verlief, wie es im Kontext eines Rennens dieser Größenordnung nur verlaufen kann.

3944 km, 38093 hm (exklusive Wanderung)
9 Tage 6 Stunden 55 Minuten

VIA Race
Homepage https://via-race.com/
Instagram https://www.instagram.com/via_race/
Facebook https://www.facebook.com/people/VIA-race/61553097144690/
Podcast https://www.youtube.com/@TheHundredthMile/videos

Fotos: Ultracyclists Ltd (VIA Race)
Text: Adam Bialek

3 Gedanken zu „VIA – per Rennrad auf den Spuren Hannibals&8220;

  1. Adam, eine beeindruckende, souveräne Leistung. Schon beim Dotwatchen im Juli. In Worten beschrieben umso mehr. Gutes Gelingen für den 2VS!

    „Fahrräder sind nicht dazu gemacht, um sie herumzutragen, sondern um sie zu fahren.“ – Ein wichtiges Addendum zu den Regeln der Velominati.

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