Ohne Edel.Domestiken

Polog: Es war ein schneller Tag, daher gibt es leider keine touristischen Fotoaufnahmen. Ich bitte die geneigte Leserschaft sich auf dem Fundament meiner Worte ein eigenes Bild der Geschehnisse zu machen.

Es ist Sonntag der 3.Juli 2022. Nach dreijähriger Pause findet in der Hauptstadt wieder ein großes Jedermann-Rennen statt – aus ehemals Velothon wurde nun VeloCity. Die Vorfreude auf gesperrten Straßen richtig Rennrad zu fahren stieg schon eine ganze Weile hoch. Und dann kurzfristig eine Streckenänderung/-verkürzung auf 90km, weil keine Genehmigungen für die Straßensperrungen vorlagen??? Aber das ist wohl eine andere (Berliner) Geschichte…

Kurz nach acht und eine Stunde vor dem Start bin ich an der Straße des 17. Juni. Am Rand zum Einlass meines Startblocks C beobachte ich das rege Treiben der eintreffenden Teilnehmenden aus den vier Blöcken A, B, T60 und T90, die nacheinander vor mir auf die Strecke gehen werden und an mir vorbeikommen. Das sind sie also, die schnellen Leute. Aero soweit das Auge reicht. Ich beginne bereits jetzt mit meinen Gedanken im Rausch der Geschwindigkeit zu versinken. Vom ersten Bodenkontakt bis zu den Schultern – hoppla: Charles Darwin? Robinson Crusoe? Bist du es? Getreu dem Motto van der Poels „Because i want to keep my hair“… Halsaufwärts zählen überraschenderweise andere Gesetze für marginal gains – meine Gedanken werden schlagartig wieder langsamer.

Die wummernden Bässe verstummen kurz und der Kommentator bittet alle, sich in die Startblöcke zu begeben. Es wird auf einmal richtig voll, kein Wunder, sind es doch 6.000 die sich hier und heute in den Sattel schwingen. Mit 12.000 hatten die Veranstalter eigentlich gerechnet. Ob es an der Streckenführung lag, die im Nachhinein betrachtet eher einem Criterium glich, oder… Ehe der Startschuss fällt stimmt Jens Vogt übers Mikro die Menge nochmal auf die Gefahrenquellen und Highlights (“…der Willi, unser Alpe d’Huez, der tut immer weh, selbst wenn ich von der Tour heimkam…“) ein. Der Countdown läuft und dann geht es endlich los. Nach und nach rücken die Blocks an die Startlinie und nach wenigen Minuten werde auch ich auf die Strecke gesaugt. Ich halte mich links und arbeite mich zügig an dem mit mir gestarteten Pulk voran. Drei Mitstreiter tuen es mir gleich und wir bilden schnell eine Gruppe. Beim Schloss Charlottenburg fliegen wir förmlich am ersten großen Block B vorbei und nehmen dabei den ein oder die andere schnelle Fahrerin mit, die unserem Tempo folgen wollen. Schon sind wir am Beginn der Havelchaussee und somit im Grunewald angekommen. Willi, meine Beine fühlen sich heute gut an.

Alpe d’Willi

Wie zu erwarten “staut” es sich hier ein wenig. Ich weiche wieder nach links aus. Pam, pam ,pam – im Takt der drei hochschaltenden Gänge gehe ich aus dem Sattel und fliege beflügelt von Ulles Doku (wer sie noch nicht gesehen haben sollte; aktuell in der ARD-Mediathek) den kleinen Anstieg hinauf. Mein heutiges Ordino-Arcalis, selbstverständlich auf dem großen Blatt 🙂 Bei der darauffolgenden Abfahrt schliessen meine Mitstreiter wieder auf und versüßen mir mit “Bergziege” und “starker Antritt” meine kurze Anstrengung. Auf der Krone nehme ich die Beine für einen Augenblick etwas hoch und lasse meinen Puls wieder runterkommen. Dreiviertel der Strecke liegen ja noch vor uns. Unsere Gruppe ist auf eine stattliche Größe von etwa 30 Fahrern gewachsen und rauscht wie ein sich immer schneller drehender Kreisel an allen die nichtmehr können oder schneller wollen vorbei. Der Geschwindigkeitsrausch herrscht über die Beine. Wahrgenommen werden nur Lücken, die sofort zugefahren werden.

Hinten tut es genauso weh wie vorne

Zügig geht es über den Süd-Westen wieder Richtung Mitte. Vorbei am Viktoriapark in Kreuzberg schießen wir die kleine Abfahrt hinunter und nähern uns dem Zeitungsviertel. Ab hier wird es etwas hektisch. Die vielen engen Kurven und verhältnismäßig schmalen Straßen fordern einiges an “Spritzigkeit”, um nicht hinten rauszufallen. In einem großen Bogen über F-hain und Alexanderplatz bewegen wir uns vorbei am Hauptbahnhof Richtung Start-/Zielbereich. Kurz davor werden alle nochmal von der 800m langen Pavé-Passage wieder wach gerüttelt, damit niemand die bevorstehende Streckenteilung verpasst. Die Teilnehmenden der 60er Runde haben hier ihr Soll erfüllt. Für die 90er geht es ein zweites Mal raus aus dem Zentrum in Richtung Tegel. Dieser Streckenabschnitt führt auf gleichem Weg zurück. Kurz nach dem ehemaligen Hauptstadt-Flughafen kommen uns die ersten Begleitfahrzeuge und bald darauf auch die Spitzengruppe und deren Verfolger entgegen. Wir liegen also 10-12km dahinter. Das Tempo zieht nochmal an. Am Ende der Jungfernheide erreichen wir den Wendepunkt und unsere Gruppe rauscht wieder Stadteinwärts. Nun kommen uns die auf uns Nachfolgenden auf der Gegenfahrbahn entgegen. Ob sie dann auch angezogen haben? Der Abschnitt schien auf jeden Fall etwas mit den Leuten zu machen, lagen allein hier drei im Graben. Schnell sind wir wieder am Tiergarten und drehen nochmal eine Runde Richtung Ernst-Reuter-Platz, bevor es Schnur gerade auf der Straße des 17. Juni Richtung Ziel geht. Kurz vor der Siegessäule passiert es dann: Zwei Fahrer verhaken sich und stürzen. 3-4 dahinter können nichtmehr ausweichen und knallen hinein. Die Anderen versuchen rechts auszuweichen und wie beim Domino knallt es gleich nochmal und 4-5 bilden ein zweites Knäuel. Der Rest kommt irgendwie durch und mit dem Schrecken davon.

Am Ende rollen wir mit einem Schnitt von 38,55 km/h ins Ziel. 89 PLAK, gesamt 379 – ganz zufrieden. Das alkoholfreie Weißbier aus dem Plastebecher in der sich dann schnell füllenden Feedzone spar ich mir. Dafür lasse ich mich am Abend vom Edel.Domestiken Philip noch zu einer 90k Runde in die schönen und ruhigen Spreeauen überreden – cool.down – das fühlt sich dann aber eher nach Bjarne an 😉

Tagespensum: 172,44k

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