07.09.2020
Es ist Montagvormittag, ich erwache am Campingplatz in Cotignac, dem Ausgangspunkt für eine höhenmeterreiche und mehr als 1000 km lange Rundfahrt durch den südöstlichen Teil Frankreichs. Die Veranstalterin, Sophie Matters, hat am Campingplatz ein kleines Zelt aufgestellt. Daneben eine überdimensionierte Landkarte mit der eingezeichneten Strecke, welche wir Randonneure versuchen werden, in unter 100 Stunden zu absolvieren.
Lange stehe ich vor dieser Karte und versuche, mir den Streckenverlauf einzuprägen. Ich studiere gerne solche Karten und es macht mir Freude anzusehen wohin es mich in den nächsten Tagen womöglich verschlagen wird aber heute überkommt mich ein gewisses Gefühl von Unbehagen und Nervosität. Ich habe zu Hause schon seit Wochen den Streckenverlauf mit dem Höhenprofil studiert, eine kleine Abbildung davon hängt an meiner Kühlschranktür. Doch die schiere Größe der hier dargestellten Karte und die vielen Kontrollstellen geben der Sache einen ganz eigenen Charakter, der mir irgendwie Respekt abverlangt.
Ein wenig kann ich mich durch Gespräche mit den anderen Teilnehmern ablenken. Jedes Rad wird genau inspiziert und die Vorteile und Nachteile des gewählten Equipments intensiv diskutiert. Sehr schön ist, dass wirklich alles vertreten zu sein scheint, vom Stahlrahmen bis zum Titan, von der Rahmenschaltung bis zur elektronischen Dura Ace, von vollgepackten Gepäckträgern bis zum Minimalismus pur erstreckt sich die Spanne des eingesetzten Materials. Eine Vielfalt, die ich immer wieder bestaune und sehr viel Gesprächsstoff unter den Teilnehmern bietet. Die paar Stunden bis zum Start vergehen dabei wie im Flug und lenken mich ein wenig ab.
Die ersten Starter werden um 15 Uhr verabschiedet und begeben sich recht unspektakulär auf den Weg. Ich selbst starte eine Stunde später und begebe mich allein auf die Reise. Der erste Abschnitt führt mich in Richtung Verdonschlucht. Äußerst imposant und wunderschön an diesem lauen Spätsommerabend. Bei der ersten Kontrollstelle treffe ich auf einen jungen Teilnehmer aus Frankreich. Bei einem kurzen Plausch erzählt er mir, dass er aus dem flachen Teil des Landes kommt und mit Berge eigentlich keine Erfahrung hat. Erst im Ziel werde ich ihn wiedersehen, er hat die Tour gemeistert, obwohl er zusätzlich mit zahlreichen technischen Defekten zu kämpfen hatte. Chapeau!
Am Colle Saint-Michel ist eine Baustelle, welche eine Befahrung untertags nicht erlaubt. Daher ziehe ich die alternative Startmöglichkeit am Nachmittag dem Start am Morgen vor. Das bedeutete jedoch, dass ich diesen Berg noch in der Nacht erklimmen muss, was zu einer unerwarteten und äußerst schwierigen Hürde werden sollte. Die Differenz aus den sehr warmen Temperaturen am Tag mit annähernd 30 Grad und den rapide abfallenden am Abend setzen mir körperlich massiv zu. Im Anstieg auf den Berg zeigte der Garmin kurz vorm Gipfel nur noch 2 Grad über Null an. Einen derartigen, wahrscheinlich dadurch ausgelösten, gravierenden Leistungseinbruch am Rad habe ich bis dato in dieser Vehemenz noch nicht erlebt. Obwohl die Steigung nur rund 5 Prozent beträgt, musste ich immer wieder kurz absteigen. Am Gipfel angekommen vollziehe ich einen Bekleidungswechsel, der den herrschenden Außentemperaturen schon mehr entspricht und zittere mich dennoch den Berg hinunter. In der ersterreichten kleinen Ortschaft, Thorame-Haute, beziehe ich mit einem anderen französischen Teilnehmer ein kleines und feines Wartehäuschen als Nachtquartier (es ist gerade halb zwei Uhr morgens) und schlüpfe in meinem Daunenschlafsack. Eigentlich wollte ich die erste Nacht und den ersten Tag durchgehend am Rad sitzen, doch dieser erste Berg mit den Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt haben mich an die Grenzen meines Leistungsvermögens gebracht. Oder um es in den Worten meines im Schlafsack und (Notfall)Biwak liegenden französischen Kollegen zu sagen: „I`m dead.“
So ernüchternd der erste Tag geendet hat, so bezaubernd beginnt der 2.Tag des Abenteuers. Um 6 Uhr früh steckt Géraldine, eine junge französische Teilnehmerin, ihren Kopf in unsere Notunterkunft und wünscht mit einem bezaubernden Lächeln ein „Bonjour“, entschwindet aber ein paar Augenblicke später wieder. Ich packe schnell meine Sachen und versuche mich auf die Spuren der jungen Dame zu heften. In Barreme, ca. 50 Kilometer weiter sitzen wir dann gemeinsam beim Frühstück. Aufgrund der zum überwiegenden Teil sehr abgelegenen Streckenführung, muss man jede Möglichkeit sich zu versorgen, nützen.
Meine persönliche Planung, die ich mir vor Beginn zurechtgelegt hatte, habe ich bereits nach 16 Stunden über Bord geworfen. Dieser körperliche Einbruch hat mir gezeigt, dass bei dieser Streckenführung ein fix anvisierter Zielort für mich nicht funktioniert. Ich versuche nur noch jeden Anstieg so gleichmäßig und rhythmisch wie möglich hoch zu pedalieren und mich von der umliegenden Natur beeindrucken zu lassen. Mit dieser Taktik stehe ich 105 km später und mit 2500 Höhenmetern mehr am Konto, am Mont Colombis und genieße den herrlichen Ausblick.
Die darauffolgende Abfahrt beschert mir durch eine Unaufmerksamkeit meinerseits (falsch abgebogen) 150 zusätzliche Höhenmeter die ich unter einigen Worten, die ich hier nicht wiedergeben will, meiner Garmin-Aufzeichnung hinzufügt habe.
In Gap, nach 365 km und 8000 HM angekommen, gehe ich im Stadtzentrum Abendessen. Schon während des Abendessens ereilt mich ein Frösteln, welches in mir die Lust am Weiterfahren schwinden lässt. Ich nehme mir spontan ein Hotelzimmer, wasche mein Equipment und nach einer heißen Dusche gehe ich relativ früh zu Bett.
Sehr gut ausgeruht steige ich um fünf Uhr früh aufs Rad und bereits jetzt spüre ich, dass es ein guter und an Höhemeter reicher Tag werden könnte. Ich sollte recht behalten. Sechs Bergpässe (inkl. dem heurigen TdF Pass „Col de Porte“), eine lange und flache Fahrt dem Isére entlang, dabei Grenoble umfahrend, beinhaltet dieser Tag am Rennrad alles, um mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Am Col du Coq gibt es des Weiteren eine Geheimkontrollstelle mit Versorgung. Dort bekomme ich Suppe mit Reis 😊 Danke dafür, es war exquisit.
Am Abend während des Anstiegs zum Col de Romeyere beginnt es zu tröpfeln. Ich habe bis dorthin (an diesem Tag) 6100 HM und 265 km zurückgelegt und das Gefühl in mir, ich könnte ewig fahren. Doch diese paar Tropfen lösen meine Motivation ruckartig auf. Daher nehme ich die nächstgelegene Schlafmöglichkeit, die ich vorfinde. Diese bietet sich mir in Form eines LKWs mit offenem Anhänger und einer Straßenbaumaschine darauf. Meine nassen Klamotten hänge ich auf den Seitenverstrebungen auf. Mein Fahrrad positioniere ich direkt bei der Fahrertür, damit ein eventuell ankommender LKW Lenker nicht mit mir als blinden Passagier losfahren kann. Ich selbst beziehe meine „Unterkunft“ am Anhänger unter der Straßenbaumaschine. Überraschenderweise ist es sogar eine recht komfortable Nacht, nur ein paar Regenschauer wecken mich, während ich vollständig im Trockenen bleibe.
Am nächsten Tag starte ich meine Reise wieder früh am Morgen. Absolut malerisch und in grandioser landschaftlicher Kulisse führt mich die Strecke von Bergpass zu Bergpass. Der Höhepunkt (aus landschaftlicher Sicht und an diesem Tag) ist der Col de la Machine. In den Fels gesprengte Tunnel und ein fast schon lächerliches Mäuerchen zur Absicherung des Abhanges prägen hier den Streckenverlauf. Felsen, welche überhängend über der Straße verweilen und unter denen sich die Straße durchwindet, laden immer wieder zum Verweilen und Fotografieren ein. Der atemberaubende Abhang, welcher hinter dem Mäuerchen mit bis zu 700 Meter Felswand in die Tiefe stürzt, flößt mir Respekt und Vorsicht ein.
Der Höhepunkt aus sozialer und hilfsbereiter Sicht ergibt sich am Abend. Wieder bin ich gut vorangekommen, doch schon am Abend zeichnet sich ab, dass mich mein Weg direkt in ein Gewitter hineinführen wird. Den letzten Pass des Tages, den Col de Serre Larobe, überwinde ich bereits in einer ausgiebigen Regenfront. Das Gewitter hat sich zum Glück bereits beruhigt, doch aufgrund der geringen Temperaturen in der Nacht und den Straßenverhältnissen erscheint mir eine Weiterfahrt bei Regen als nicht besonders ratsam. Ich befinde mich jedoch in einer Gegend, in der es mit jeglicher Art der Versorgung äußerst schlecht bestellt ist. Doch mir kommen die Worte von Géraldine in den Sinn, die gemeint hat: „Einfach bei einer Haustür anklopfen und fragen“. Ich folge diesem Rat und ein junges Pärchen öffnet mir. Ich frage, ob Sie ein Zimmer verfügbar hätten, da unten an der Straße ein Schild mit le gite (Herberge) zu sehen ist. Sie erklären mir jedoch, dass dies noch vom Vorbesitzer ist, und sie keine Zimmer mehr vermieten würden. Nach einer kurzen Konversation bieten sie mir trotzdem ein Zimmer mit Duschgelegenheit an. Zur Krönung des Abends werde ich auch noch zum Abendessen eingeladen und so endet dieser Tag mit Raclette, einer Flasche Weißwein und einer politischen Diskussion, die bis 11 Uhr abends andauert.
Manon und Antoine, auch wenn ihr diese Zeilen nicht lesen werdet, danke für die Gastfreundschaft und diesen unvergesslichen Abend.
Es ist Freitag, der 11.09.2020 und ich breche um 6 Uhr früh zu meiner letzten Etappe auf. Der ewig lange Anstieg auf den Montagne de Lure, 26 Kilometer und 1300 HM, zieht sich schier unendlich in die Länge. Erst als ich beim Anstieg auf einen französischen Kollegen auflaufe, kommt ein wenig Abwechslung in das Geschehen. Als ich in überhole, zieht er nach und erhöht das Tempo. Dies wiederum stachelt meinen Ehrgeiz an. Seit langem sehe ich wieder höhere Watt Werte auf meinem Garmin aufleuchten. Dieses kleine „Duell“ bringt uns beide dann aber überraschend schnell auf den Gipfel. Während der Kollege am Gipfel auf einen nachfahrenden Freund wartet, begebe ich mich wieder solo in eine sehr schnelle Abfahrt und auf die letzten 100 km und 2500 HM der Tour.
Diese Kilometer führen mich wellig entlang von schier endlosen, bereits abgeernteten Lavendelfelder. Nach 95 Stunden (5 Stunden vor dem Zeitlimit für Randonneure) erreiche ich wieder den Campingplatz. Ich werde von einer Dame und drei Herren, die diese Strecke bereits vor mir gefinished haben, mit Applaus empfangen.
Den ganzen Tag hindurch treffen immer wieder weitere Teilnehmer der Tour ein. Der ganze nächste Tag ist geprägt vom Erfahrungsaustausch, von Berichten und vom geselligen Beisammensein unter den Absolventen der Le Mille du Sud 2020.
Einige Zahlen:
Strecke:1022 km
Höhendifferenz: 21 475 HM
Schnitt: 20,1 km/h
Schnitt (brutto): 10,7 km/h
Gesamtzeit: 95 Stunden 3 Minuten
text & fotos: stefan eferdinger
Toller Bericht, sehr inspirierend! Vielen Dank!
Herzlichen Glückwunsch! Was für ein tolles Erlebnis. Beim Lesen steigt mir unweigerlich dieser herrliche Lavendelduft in die Nase, dem man da unten in der Sommerzeit nicht entgehen kann.