Die vergangenen Wochen und Monate waren geprägt vom bevorstehenden Saisonhighlight – hart, härter, Ötztaler! Ich habe einen Traum… ?! … So der Slogan des Radmarathons mit Start im Tiroler Sölden. Nachdem das Event 2020 Pandemie bedingt ausfiel, sollte also am 29. August 2021 das 40. Jubiläum stattfinden. Sailo musste für diese Ausgabe leider frühzeitig seinen Start aus persönlichen Gründen zurückziehen, der Rest der Equipe war bereit, wie man es eben für eine 230+km mit 5000+hm Runde sein kann, bei der man aufgrund der Zeitmessungspunkte auf jeden Fall nicht trödeln darf. Während der letzten Vorbereitungen verfolgten wir natürlich aufmerksam den Wetterbericht. Die Prognose sah nicht gut aus und stand auf Regen. Aber es ist ja auch immer so eine Sache mit dem Wetter in den Alpen, das sich oftmals unerwartet schnell ändern kann. Wir versuchten optimistisch zu bleiben und hofften das Beste.
Am Samstag reisten wir in Sölden an. Es regnete fast ununterbrochen und die Temperaturen sanken in den einstelligen Bereich. Für Sportgeschäfte und Aussteller vor Ort mit regenfester Radsport-Ausrüstung im Angebot konnte es kaum besser laufen. Die Regale wurden innerhalb kürzester Zeit praktisch leergekauft. Velotoze´s avancierten zu Goldstaub und waren wenn nur noch in dunklen Gassen gegen lebenswichtige Organe zu haben.
Wir checkten ein, akkreditierten uns und bereiteten erstmal alles wie geplant für den Start vor. 19.30 Uhr dann Fahrer-Breefing: Sagen wir mal so, der OK-Chef und seine Entourage waren selbst etwas verhalten, mahnten die Starter zu äußerster Vorsicht und schworen auf eisige Temperaturen mit Regen und in höheren Lagen mit Schnee ein. „Nehmen Sie unbedingt wasserdichte Handschuhe mit! Wenn Sie keine haben gehen Sie noch schnell in den Baumarkt oder Supermarkt…“. Wem die Finger bei einer Abfahrt schonmal nahezu eingefroren sind, kennt die Sehnsucht nach dem ‚wer bremst verliert‘… „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet, Schneepflug und Streufahrzeuge stehen bereit – wir haben die Anzahl der Besenwagen-Busse massiv aufgestockt!“ usw… Abschließend gibt die Wetterfee des ÖRF einen ernüchternden und düsteren Ausblick auf das zu erwartende Wetter. Es wird klar – selbst wenn es wieder erwarten am Vormittag trocken bleiben sollte; wer nicht unter 8/9h durchkommt, hat neben den eisigen Temperaturen ab der zweiten Rennhälfte mit Regen/Schnee zu rechnen. Das sind nicht die schnellen Leute, das sind die, die einen Traum haben. Die oder von denen der Mythos Ötztaler lebt.
Ich stolpere im Tour-Forum über einen Beitrag von „Alpenbiker“: Abgebogen. Sie sind bei der Anreise spontan auf den Brenner abgebogen und vor dem grausigen Wetter geflüchtet. Während wir eingemümmelt in Sölden der Dinge verharren sind sie den nur 2 1/2 Autostunden entfernte Monte Velo nahe Trento hochgefahren – kurz/kurz! Aus dem Schlechtwetter-Ötzi 2018 gelernt. Chapeau und Respekt, auch wenn das einige im Tour-Forum später anders sehen und kein gutes Haar an denen lassen, die nicht gestartet sind. Sie würden anderen die Willens sind ja schliesslich einen Startplatz wegnehmen, Luschen usw. bis hin weit unter die Gürtellinie.
5000+hm tun weh, keine Frage, das dürfen sie auch. Aber bei frostig nasskaltem Wetter und meiner Gewichtsklasse mit nichts auf den Rippen überwiegt dann doch die Freude am Radfahren mit Freunden, als die Suche nach einer Grenzerfahrung im Kampf gegen die Elemente. Das ist dann eben eher was für die, die auch darin Spass finden können oder den Mount Everest Touristen, der in seiner Lebensmitte noch/einmal das große Ding reißen muss – aber Achtung: hier ohne Sherpa!
Es ist nicht die fehlende Heizung in unserer Unterkunft die unser Radlerherz erwärmt, sondern der Gedanke bzw. schnell gefasste Entschluss es „Aplenbiker“ (großes Dankeschön für euren Hinweis!) gleich zu tun. Um 4 klingelt der Wecker. Wir müssen, noch ehe die Strassensperre eingerichtet wird, Sölden verlassen. Gegen 6 machen wir uns wie Ganoven auf der Flucht auf den Weg nach Trento in Norditalien.
Die Ersatz-Tour für den Tag haben wir in der Nacht noch schnell geplant. In Vela parken wir den Transporter und steigen kurz darauf auf unsere Räder. Es geht gleich den Monte Bondone hoch – mit fast 1400hm am Stück und 8% durchschnittlicher Steigung ein guter Anfang. Nach einer frischen Abfahrt führt uns unser Weg weiter bis nach Dro, wo wir im Caffe Centrale bei Pannini und Espresso freudestrahlend das mediterrane Klima genießen und alle Zweifel verfliegen, die für uns richtige Entscheidung getroffen zu haben und wir kurz darauf unsere „Genussrunde“ fortsetzen.
Wir fahren zunächst weiter südlich und erhaschen einen kurzen Blick auf den Gardasee eher wir nach Osten abzweigen und in den nächsten Anstieg, den Monte Velo eintauchen. Traumhaft schlängelt sich auch hier die kleine Straße auf etwas über 1300hm hinauf. Unsere Vorbereitung auf die ursprüngliche Herausforderung des Tages scheint gut gelaufen zu sein, denn die vereinzelten Rampen im zweistelligen Bereich fallen praktisch nicht auf. Schon befinden wir uns in einer rasanten Abfahrt hinunter nach Aldeno. Wir überlegen kurz den Doss dei Corvi noch mitzunehmen, entscheiden uns aber (entweder noch eine Unterkunft suchen oder noch 5+h zurück nach Regensburg fahren) doch für den kürzeren Weg zum Startpunkt, hauen dafür aber alle Körner raus. Glücklich, entspannt und in kurz/kurz erreichen wir den Transporter, packen ein und geniessen noch einen kleinen Augenblick bei einem Snack die wohltuende Brise Norditaliens, ehe wir die Heimreise antreten. Natürlich werfen wir auch noch einmal einen Blick auf das Geschehen beim Ötzi. Von mehr als 4.000 Startern sind nur 2.700 an den Start gegangen. Fast 1/3 erreicht Sölden im Besenwagen. Es blieb dann doch länger als erwartet trocken, aber der Anblick der schlotternden, durchnässten und durchgefrorenen Finisher hat uns gereicht. Die Veranstalter klopfen sich erleichtert auf die Schulter – the show must go on…
Christina Rausch schreibt in besagtem Tour-Thread später: „Es gibt landschaftlich schönere Rennen, solche die länger sind und mehr Höhenmeter haben, Austragungsorte, die lieblicher und weniger Apres Ski sind…“ – in dem Sinne zwar kein „Rennen“, aber das gab es an diesem Tag für uns: Geil, geiler, Trento – träumt weiter…
110km, 3.067hm